Architekturausbildung versus Bildungskonformismus
Architektur – sofern man sie als Baukunst und nicht nur als Bauen versteht– tritt wie keine andere Kunstform direkt mit dem Menschen in Kontakt. Als gebaute Umwelt definiert sie für den Einzelnen und die Gemeinschaft den Rahmen und die Basis für grundlegende anthropologische Bedürfnisse nach individuellem Schutz, sozialer Interaktion und kultureller Identität. Dies bedingt entsprechende Anforderungen an die Ausbildung von Architekten, die sich per se an der Verantwortung für die gesellschaftliche Bedeutung des Berufs (und seiner Zerstörungspotenziale) orientieren muss. Dabei dürfen weniger ideologische oder „wissenschaftliche“ Lehrkonzepte eine Rolle spielen als vielmehr die simple Wahrheit, dass nur allgemeine Bildung die Grundlage des Verständnisses der eigenen kulturellen Position und demzufolge umfassender Erkenntnis und verantwortungsvollen Handelns sein kann. Nur wer seine Herkunft und sein Umfeld kennt ist in der Lage seinen Standpunkt zu bestimmen und zu reflektieren, um daraus ggf. sein Handeln als zeitgenössische kulturelle Artikulation zu gestalten. Geht man davon aus, dass jede bedeutende Architektur latent die Geschichte der Vorgängerzeit in sich trägt, diese „neue“ Architektur jedoch vor allem wegen ihrer Andersartigkeit und nicht wegen ihrer Gemeinsamkeiten zu ihren Vorbildern als zeitgenössisch erkannt wird, so wird das besondere Spannungsfeld in dem Architektur als Baukunst entsteht evident. Entwerfen im Bestand ist vor diesem Hintergrund nach meiner Überzeugung keine eigenständige Architekturdisziplin, sondern selbstverständliche Auseinandersetzung mit den Spezifika, den Spuren und der Aura des gebauten oder ungebauten Ortes – und Denkmalpflege ist hierzu keine wissenschaftliche Sonderleistung, sondern lediglich ein (junges) Etikett für wahrheitsgemäßes Erkennen und Analysieren sowie ggf. Tradieren oder auch Überformen vorgefundener kulturrelevanter Artefakte. Demzufolge muss sich die Ausbildung von Architekten generell auf zwei Bereiche konzentrieren: 1.) die interdisziplinäre Vermittlung allgemeiner Bildungsinhalte der existenzbestimmenden Faktoren des Menschseins, wie Philosophie, Geschichte, Soziologie, bildende und darstellende Kunst(geschichte) einschl. deren Konstruktion und Technik, Religion etc. und: 2.) das gezielte und individuelle Angebot zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit der Lernenden, ein geistiger Schutz- und Freiraum, in dem das Zulassen von Irrtümern und Fehlern den Lernprozess mitbestimmt, die Möglichkeit für Experimente und interdisziplinäre Sichtweisen gegeben ist, vorurteils- und ideologiefrei, individuell auf die Talente und Fähigkeiten der Lernenden bezogen. Diese Schwerpunkte müssen übergreifend und integrativ alle Felder architektonischen Handelns als gestaltende Tätigkeit umfassen, also auch Städtebau, Landschaftsarchitektur, Design etc. Die wissenschaftliche Vertiefung und Bearbeitung der Themen und deren Verknüpfung untereinander muss im Rahmen der Ausbildung dabei besonders im Mittelpunkt stehen und gezielt gefördert werden. Ziel dieser Struktur ist die methodische Anleitung des Studierenden nicht im Sinne einer mechanistischen Wissensvermittlung, sondern eines empirischen Erkenntnisgewinns durch Begreifen übergeordneter Zusammenhänge zwischen Kunst, Geistes- und Natur-Wissenschaften. Nur so kann sich die Individualität und ggf. das Talent der Lernenden frei entwickeln, können sie objektiv, kritisch, neugierig und offen bleiben als Basis für ihr späteres eigenverantwortliches Handeln. Im Rahmen des heute ohnehin zu kurzen Studiums können in der Lehre naturgemäß nur Grundlagen der beteiligten Fachgebiete vermittelt werden. Gerade deshalb kommt der Methodik zur effektiven Vermittlung der Lehrinhalte besondere Bedeutung zu. Entscheidend hierfür ist nach meiner Überzeugung neben einer inhalts-(nicht ergebnis)bezogenen Organisationsstruktur vor allem die persönliche Bindung des Studenten an den Lehrenden, um so die Zeit des Studiums als persönlichkeitsbildenden und richtungsgebenden Lebensabschnitt zu markieren. Dies bedingt den persönlichen Diskurs und Austausch, Anleitung und Kritik, ein Maximum an Entwurfsübungen und Exkursionen, Exkursionen, Exkursionen…. In diesem Sinne muss eine wahrhaftige Lehre von Architektur als künstlerischer Universaldisziplin heute vor allem gegen die beständig zunehmende Desozialisierung und Mechanisierung der Lernenden in einem staatlich aufoktroyierten Bildungssystem mit gänzlich andersartigen Zielen Stellung beziehen. Statt gleichgeschaltete, leistungskategorisierte Repetitionsmaschinen heranzuziehen, bedarf es gerade in der Architektur einer breitgefächerten Aus-Bildung individueller Persönlichkeiten mit ihrer unbegrenzten Vielfalt an Talenten und Fähigkeiten.
Europäisches Institut für angewandten Städtebau (EIFAS)
Im postindustriellen Zeitalter unserer heutigen globalisierten Medien-, bzw. Informations- oder besser Kommunikationsgesellschaft ist die „Krise“ der europäischen Stadt bereits vielfältig beschrieben worden. Diese Beschreibungen beziehen sich in ihrer Ursache meist auf die Divergenz bislang historisch tradierter Entwicklungsmuster der Stadt zu den heute global wirksamen Phänomenen von Verkehr, Kapital, Architektur und Siedlungswachstum. Die Konsequenzen dieser Entwicklung, auf die es mit den bislang bekannten Planungsinstrumenten nur unbefriedigende oder gar keine Möglichkeiten der Intervention gibt, sind einerseits eine rasante Verdichtung der Ballungsräume und Metropolregionen und andererseits in deren Sog eine Entvölkerung und Funktionalisierung ländlicher Räume. Die Auswirkungen sind komplex, global, schnell und politisch nur schwer kontrollierbar. Die gesellschaftlichen Folgen sind erheblich: Mobilitätschaos, Heimat-/Identitätsverlust, Zerfall sozialer Strukturen, Umweltzerstörung, Landverbrauch etc. sind die Kollateralschäden des Wachstumsdogmas. „Experten“ und Politik antworten hierauf reaktiv mit Institutionalisierung, Programmen, Leitbildern und wissenschaftlichen Studien. Dabei klaffen nach wie vor Welten zwischen Wissenschaft und Forschung und der operativen Ebene der tatsächlichen Akteure in den Städten und Kommunen. Dort fehlt es an Bewusstsein und Geld und demzufolge an Ausbildung, Personal oder praxisrelevanten Hilfestellungen. Dabei gibt es gravierende Unterschiede zwischen den „Gewinnern“, der wirtschaftlich potenteren Ballungsräume und den „Verlierern“ der kleinen Gemeinden und Kommunen. Gegen die Dynamik des monetären Diktats bleibt der Anspruch auf Maßstab, Nachhaltigkeit und Qualität der gebauten Umwelt meist in beiden Fällen auf der Strecke. Demgegenüber bleiben jedoch für den Menschen die Qualitäten der „Orte“, wie Heimat, Maßstab, Individualität, Sozialbindung etc. im Gegensatz zu denen der „Nicht-Orte“ (die für alle vorgenannten Qualitäten konsum- und kommunikationsbasierte Substitute anbieten) aus seiner Geschichte heraus existentiell. Im Fachgebiet Entwerfen im Bestand / Denkmalpflege bietet sich hier die Chance den fehlenden Konnex zwischen Theorie und Praxis als Forschungsschwerpunkt in einem Europäischen Institut für Angewandten Städtebau (EIFAS) zu verfolgen. In diesem Institut sollten die der Architektur immanenten Einzeldisziplinen wie Architektur, Stadt- und Raumplanung, Landschafts- und Verkehrsplanung integrativ zu praktisch anwendbaren Forschungsergebnissen zusammengeführt werden. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie historisch gewachsene Strukturen von Städten, Dörfern und Kulturlandschaften in ihren kulturellen, soziologischen und identitätsstiftenden Qualitäten erkannt und analysiert, durch reale Projektansätze gestärkt und somit als Grundlage einer individuellen Neuevaluierung in dynamische Transformationsprozesse überführt werden können. Die besondere Ausrichtung von EIFAS ist dabei die tatsächliche, praktische Hilfestellung durch Zusammenarbeit mit Politikern, Gremien und Verwaltungen aber auch mit Bürgern und Gruppierungen vor Ort. Die enge Kooperation mit staatlichen Institutionen der Kunst- und Denkmalpflege aber auch der Förder- und Wissenschaftsbereiche ist in diesem Zusammenhang notwendig und beabsichtigt. Zur Umsetzung der Zielsetzung des Institutes kommen vor allem folgende Betätigungsfelder in Betracht: Bestandsaufnahme und Vermittlung der überkommenen materiellen und immateriellen Werte des Ortes, Konzepte und Visionen ortsbezogener Entwicklungspotentiale für Raumplanung, Siedlung, Quartier und Einzelobjekt, Erstellen von Handlungsrichtlinien für Akteure vor Ort, Kommunikation mit Bürgern und Politik – Begleitung/ Monitoring von Planungs- und Entwicklungsprozessen, Erstellen von Gutachten und Analysen, Vermittlung von Förderprogrammen, Mediation zwischen operativer Ebene und Ministerien/Behörden/Institutionen, Bildung von Netzwerken, Publikation der Projekte und Vorhaben etc. Zur wissenschaftlichen Begleitung der bearbeiteten Themen, aber auch zur internationalen Vernetzung des Institutes und europaweiten Ausrichtung der Inhalte dient EIFAS ein thematisch eingegrenztes Promotionsprogramm.
Peter Sichau 2012
Thesenpapier zur Architektenausbildung an der Universität Kassel