„Architektur ist, wenn der Raum wirkt, nicht wenn er ist.“
Jürgen Tietz im Gespräch mit Karl Weber und Peter Sichau über das
Deutsche Elfenbeinmuseum Erbach und die Zehntscheune Lorsch.
(Wiesbaden am 01.06.2017)
Jürgen Tietz: Welche Grundidee steht hinter der Ausstellungsgestaltung des Deutschen Elfenbeinmuseums in Schloss Erbach?
Karl Weber: Das neue Elfenbeinmuseum in Erbach steht in einem engen Zusammenhang mit den Planungen für die Zehntscheune in Lorsch. Bei beiden Projekten geht es um ein Stückchen mehr als nur um die „Möblierung eines Museums“
Was ist passiert?
1779 eröffnete in Kassel eines der ersten öffentlich zugänglichen Museen in Europa. Von dort aus hat sich das Museum insbesondere in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fast wie eine Seuche verbreitet und dabei immer weiter von seiner ursprünglichen Idee entfernt. Im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts musste alles und jeder ein Museum haben. Auf diesem Weg hat das Museum einen wesentlichen Wandel durchgemacht: Der Kontext der Objekte ist völlig egal geworden.
Ich bin ein großer Freund von moderner Kunst, aber die modernen Kunstmuseen unterscheiden sich heute kaum noch von einem guten Kaufhaus. Ich gehe durch und sehe ein Baselitz und einen Sol Lewitt, Jeff Koons und dies und das in großer Beliebigkeit. Der Besuch in einem Museum ist eine Art Windowshopping geworden.
Die Aufgabe eines Museums war bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Dinge zu erklären und in einen Kontext zu stellen. Diese Kontextualisierung ist komplett verloren gegangen. Neue Museumsbauten und -einrichtungen geben allem nur noch ein neues Gewand. Wir schaffen es aber nicht, dem Museum neue Inhalte zu geben. Lorsch und das Elfenbeinmuseum sind zwei Beiträge zu einer überfälligen Diskussion. Das spannende ist, dass sie die Parameter des Museums verschieben.
Jürgen Tietz: In wie fern verschieben Lorsch und Erbach die Parameter?
Karl Weber: In den oberen Geschossen von Schloss Erbach befinden sich die Räume, die Franz I. von Erbach am Ende des 18. Jahrhunderts eingerichtet hat. Sie sind bis heute weitgehend so erhalten, wie er es sich entsprechend seiner Philosophie seiner Gedankenwelt vorgestellt hat. Alles steht dort in einem Kontext, die Objekte sprechen miteinander und bilden pro Raum einen Sinnzusammenhang. In diesen Zusammenhang hinein musste das Elfenbeinmuseum implementiert werden und zwar auf eine komplett andere aber doch verwandte Art. Wie in dem ganzen übrigen Schloss gibt es dort keine einzige Beschriftung.
Warum wurden diese Beschriftungen überhaupt eingeführt?
„Ohne Titel, Datum unbekannt, 2×2 Meter, Leihgabe“.
Man kann Museen mit allen möglichen Textformen zupflastern, die Frage ist wo der Erkenntniswert ist. Beschäftige ich mich dann nicht stärker mit dem Text und weniger mit dem Objekt? Aber das Werk hat im Mittelpunkt zu stehen. Alles was kommentierend dabei steht, ist sekundär. Deshalb gibt es in Erbach keine Erklärungen. In Lorsch wie im Elfenbeinmuseum muss ich mich direkt mit dem Werk auseinandersetzen. Alles Überflüssige ist weggelassen und ich bin als Betrachter komplett auf mich selbst zurückgeworfen. Das ist ein extremer Vorteil, weil ich das Kunstwerk so selbst erkenne.
Das ist natürlich nicht das, was die normale, konservative Erwartungshaltung an das Museum ist.
Die einzige Schwierigkeit die ich habe ist, dass das Museum ausgerecht in Erbach im ländlichen Raum des Odenwaldes steht. Es kann natürlich nur dort stehen, weil dort der Kontext so ist wie er eben ist. Wäre der Kontext aber großstädtischer, würde ich mich sehr über eine hochintensive Diskussion über unser Konzept freuen.
Es polarisiert ja bereits jetzt.
Um die Diskussion noch einmal auf eine andere Ebene zu heben, müssen wir möglichst viele Besucher von außerhalb nach Erbach holen. Bei der Eröffnung Ende 2016 standen viele Besucher mit offenem Mund da, denn dort ist etwas ganz anderes entstanden. Das Problem ist, dass die Klientel konservativ ist, die an diesem Standort in das Museum geht. Dennoch weiche ich keinen Millimeter von meinem Standpunkt ab.
Jürgen Tietz: Da würde ich gerne einhaken. Ihr Konzept gleicht ja der Umkehrung des Prinzips, das Modest Mussorgski bei den Bildern einer Ausstellung verfolgt. Dort muss er die Bilder musikalisch imaginieren. Bei Ihnen fehlen die Beschriftungen. In wie weit funktioniert das als Rekontextualisierung der Objekte? Als eine Rückwendung zum Objekt selbst unter Entfernung aller Etikettierungen?
Karl Weber: Meiner Meinung geht es um zwei Sachen. Zum einen um die klare Hinwendung zum Objekt. Das andere ist, dass es Franz von Erbach geschafft hat, dass im Zeitalter der Aufklärung dort derart kunstfertige Dinge von ganz einfachen Menschen, die nicht groß ausgebildet waren, entstehen konnten.
Das ist das eigentlich Wunder!
Dass es ihm gelungen ist, das allen Menschen innewohnende kreative Potential derart nachdrücklich zu wecken. Das Elfenbein dort hat als solches keinen Wert. Erst durch das kunstfertige menschliche Handeln erhält es seinen Wert. Es kann handwerklich gut sein oder durch einen besonderen kreativen Akt und besitzt darüber hinaus einen frühindustriellen Hintergrund.
Jürgen Tietz: Geht es Ihnen darum, dem Betrachter anstatt einer Erklärung das Staunen zu geben?
Karl Weber: Sicher Staunen. Aber der Betrachter soll auch erfahren, dass ihm die Erklärung des Kunsthistorikers nicht viel weiterhilft. Das hört sich jetzt vielleicht wie eine Kriegserklärung an die Kunstgeschichte und die Kunsthistoriker an, aber es ging den Künstlern ja nicht um die Geschichten, die die Kunsthistoriker danach erzählen, sondern darum, Kunstwerke zu machen.
Kunsthistoriker haben vor nichts mehr Angst, als wenn der Künstler noch etwas sagt, dass ihrem Erklärungsmuster nicht entspricht. Deshalb geht es ja erst richtig los, wenn der Künstler tot ist!
Aber das Werk muss sprechen.
Und es spricht zu Ihnen anders als zu mir.
Darum geht es mir!
Jürgen Tietz: Es geht also letztlich um das Objekt und seine Aura.
Karl Weber: Ja.
Jürgen Tietz: Es geht Ihnen nicht um eine Deutungshoheit, sondern um einen empathischen Zugang zum Kunstwerk?
Karl Weber: Ja, ich muss es doch spüren! Es geht nicht darum nur Dinge zu erzählen, sondern darum, wieder hinzugucken. Es muss um die Kunst gehen und nicht in erster Linie um das Geschichtenerzählen.
Jürgen Tietz: Nichts gegen gute Geschichtenerzähler.
Karl Weber: Ja, ja klar. Aber das sind zwei Paar Schuhe!
Jürgen Tietz: Das Louvre-Phänomen, ich stehe vor der Mona Lisa, kann sie aber nicht sehen, weil zu viele Menschen davor stehen. Also schaue ich auf das I-Pad und sehe die Mona Lisa, wozu ich aber gar nicht vor der Mona Lisa stehen müsste, weil ich das irgendwo anders auf der Welt genauso gut mit dem I-Pad machen könnte.
Karl Weber: Ja – und zusätzlich bekomme ich vom I-Pad noch die Informationen über das Bild auf das Ohr.
Vielleicht geht es ja darum – oder eben nicht.
Dass wir uns richtig verstehen, dass was wir in Erbach und Lorsch machen, sehe ich als einen Denkanstoß, um die Welt des Museums wieder in Bewegung zu bringen. Was ich auch nicht weiß ist, ob das der selig machende Weg ist. Und ich weiß auch nicht, ob es der Weg ist, den man überall anwenden muss.
Um Gottes Willen, nein!
Worum es mir geht ist, dass man bei jeder Aufgabe anfangen muss neu zu denken! Das vermisse ich bei vielen neuen Museumseinrichtungen.
Jürgen Tietz: Kann es sein, dass diese Entwicklung etwas damit zu tun hat, dass Kunstmuseen in den vergangenen gut zwanzig oder dreißig Jahren in immer kleinere, immer speziellere Einheiten und Teilsammlungen zersplittert wurden?
Als ich Kunstgeschichte studiert habe, war die Kunst der Moderne in der Neuen Nationalgalerie noch als eine Einheit zu sehen. Man konnte die Entwicklung in ihren Wandlungen überblicken. Das geht heute so nicht mehr, weil die Bestände auf mehrere Häuser verteilt sind. Hat das mit dem zu tun, was sie beklagen?
Karl Weber: Das hat damit sehr stark zu tun. Das ist der Gipfel der Entkontextualisierung aber ich muss die Dinge in irgendeiner Form wieder zusammenführen.
In der Nähe von Kyoto gibt es ein Museum, das I.M. Pei in einen Berg hinein gebaut hat. Man muss durch einen Tunnel gehen und über eine Brücke. In dem Miho Museum hat Mihoko Koyamas Dinge zusammengestellt, die sie auf der ganzen Welt gesammelt hat. Und diese Dinge ergeben dort einen Kontext, auch wenn sie aus ganz unterschiedlichen Kulturen stammen. Sie verlässt dort die klassischen Formen der Sammlungspräsentation und stellt einen neuen Zusammenhang her. Dort gibt es zwar winzige Schilder, die aber nur klar machen, woher die Stücke stammen. Dabei lernt man auf unglaubliche Art zu sehen und Sie fangen automatisch an, über das Gesehene nachzudenken.
Jürgen Tietz: Die Kontexte, die hergestellt werden, müssen also nicht zwangsläufig die historischen sein? In dem ich die Dinge neu zusammensetze eröffnen sich gedankliche Räume?
Karl Weber: Es gibt die berühmte Madonna in der Dresdner Semper Galerie mit den beiden kleinen Engeln am Bildrand, die für eine ganz spezielle Situation in einem Kloster gemalt wurde.
Aus diesem Kontext wurde sie herausgerissen und hängt jetzt letztlich irgendwo. Diesen Bilderspeicher wieder in einen Zusammenhang zu bringen, darum muss es gehen. Oder sie wie in Erbach wieder auf sich selbst zurückzuwerfen.
Jürgen Tietz: Die Präsentation im Elfenbeinmuseum zeigt eine ganz spezielle Inszenierung, die durch den roten Steg gekennzeichnet ist, der durch den dunklen Raum führt und durch die Elfenbeinfiguren, die in den im unteren Bereich satinierten Vitrinen wie aus dem Nebel hervorwachsen. Was ist in Erbach der Kontext, der geschaffen wird, den ich als Besucher erlebe?
Karl Weber: Vorsicht, in Erbach soll einzig das Objekt sprechen. Mehr nicht. Ist es dort auratisiert?
Jürgen Tietz: Es ist inszeniert.
Karl Weber. Das sind schwierige Begriffe.
Jürgen Tietz: Ist es nicht inszeniert?
Peter Sichau: Man kann das Ganze nicht so einfach auf einen Nenner bringen. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie man heute ein Museum konzipiert. Und in diesem Zusammenhang vor allem um eine Analyse, an welchem Punkt der Kulturbetrieb heute allgemein steht und wie dieser mit der Unmenge ständig zunehmender Artefakte und Kunstschätze in der Gesellschaft umgeht. Diese Analyse betrifft das Verhältnis des Kulturbetriebes zu den Menschen, denen er in seinem, meist didaktisch gemeinten Sinn etwas „näher bringen“ will. Für uns ist dabei vor allem interessant in welchem Maß und welcher Form dieses Vorhaben heute institutionalisiert, ritualisiert und dadurch trivialisiert ist. Das entscheidende Merkmal in dieser Auseinandersetzung ist, dass es uns, entgegen der aufklärerisch-informellen Intention der gängigen Museumskonzepte nicht um eine Kunstvermittlung, sondern, im Sinne der Intention des Werkes, um eine Kunsterfahrung geht. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, bzw. das Ziel zu erreichen ist es manchmal auch sinnvoll oder notwendig die stereotypen und hohlen Mittel des gängigen Kulturbetriebes zu konterkarieren.
Das hat sehr viel mit den soziologischen und gesellschaftsphilosophischen Tendenzen zu tun, die in den letzten vierzig, fünfzig Jahren für jeden mehr und mehr spürbar wurden. Die Geschwindigkeit der Digitalisierung unserer gesamten Wahrnehmungswelt macht es heute für das Individuum zunehmend schwieriger, seine ihn umgebende Realität mit der Wahrheit abzugleichen. Das führt letztendlich zu einer immer größeren Dominanz intellektueller Katalysatoren, die jedes beliebige Bild, an jedem beliebigen Ort – und das ist das Entscheidende – mit jeder beliebigen Information hintersetzen. Durch diese Dauerkonditionierung schenkt man irgendwann den Katalysatoren mehr Vertrauen, als der eigenen Wahrnehmung. Das ist nicht nur im Kulturbereich so. Denn genau so, wie es die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Kultur und Kulturbetrieb und die Verwechslung, bzw. Täuschung in der Wahrnehmung des Individuums gibt, so weitet sich dieses Phänomen auf die Wahrnehmung aller grundlegenden menschlichen Seinsbedingungen aus.
Religion ist ein gutes, weil analoges Beispiel dafür: Das, was den eigentlichen Inhalt des Themas Religion ausmacht, nämlich die Frage nach der eigenen Existenz, nach Gemeinschaft, Ritus und Kult, wird heute fast ausschließlich durch beliebige, meist kommerzielle Angebote substituiert, die unser urmenschliches Bedürfnis nach Beantwortung der Seinsfrage zwar kurzfristig überspielen, letztendlich aber keine Antwort darauf geben, sondern unser Bedürfnis und die Sehnsucht danach sogar noch verstärken.
Im Kulturbereich ist das genauso. Meine Überzeugung ist, dass Kultur und Religion zwei Seiten der gleichen Medaille sind. So lange es Menschheit gibt, gibt es Kultur und Religion. Und das Entscheidende ist – es gibt stattdessen nichts anderes! Ein dichotomisches Verhältnis. Beides ontologische Grundbedingungen des Menschseins, die für ihn existentiell wichtig sind, um sich vor dem Hintergrund der Natur abzubilden und somit selbst „zu erkennen“. Eine kulturelle Handlung, die durch den Menschen im Schöpfungsakt durch den Artefakt im Physischen, quasi „gottgleich“ geschieht, verkörpert den Künstler als Analogie Gottes, als Schöpfer, der mit den Mitteln der Natur hervorbringt, wozu die Natur selbst nicht fähig ist. In dieser Analogie und dem Vordergrund des eigenen Seins vor dem Hintergrund der Natur erkennt sich der Mensch in seinem Menschsein, in seiner Unterschiedlichkeit von den übrigen Geschöpfen der Natur.
Das, was in der Kunst der Künstler aus Stofflichem schafft, geschieht in der Religion mit dem Logos, dem „Wort“, also dem Nicht- oder Über-Stofflichen, bzw. Meta-Physischen — in der höchsten, weil rein geistigen, von der Welt des Realen, des Scheinbaren und Vergänglichen unabhängigen Form.
Beiden Phänomenen gemein ist, dass sie in der jeweiligen „Erfahrung“, nämlich der Kunst- und Religionserfahrung, dazu führen, dass sich der Mensch in seinem Menschsein erkennt. Und zwar erkennt im „Staunen“ über das eigene Sein. In der Kunst in der Welt des Materiellen, in der Religion im Erkennen seiner Existenz aus etwas Höherem, dass zugleich in ihm ist. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn man also das Phänomen von Kultur und Religion versteht, als dem existentiellen Bedürfnis des Menschen nach der Seins-Erfahrung zur Vergewisserung seiner selbst in der eigenen zeitgebundenen Vergänglichkeit, kommt man sehr schnell darauf, dass ein Ersatz dieser Erfahrung durch eine oberflächliche, weil kognitive, intellektuelle Vermittlung von „Informationen“ zu Kunst oder Religion nie zu einer Seins-Erfahrung, als dem eigentlichen Sinn oder der Bestimmung dieses Phänomens, führen kann.
Im heutigen durchprofessionalisierten Kultur-Betrieb, als der kommerziell institutionalisierten Vermarktungsinstanz von Kunst, spielt die Möglichkeit einer Seins-Erfahrung als Ursprung von Kultur höchstens noch eine zufällige Rolle. Dies vor allem auch deshalb, weil der Kultur-Betrieb in der Inflation von Artefakten und Themen die eigentlichen Inhalte seiner Aufgabe zunehmend pornographisiert. Bezeichnenderweise steht dabei die obszöne Offenlegung, Analyse, Bewertung und Ranking, dieses ganze Durch-den-Fleischwolf-drehen jeglicher kultureller Erscheinungen durch selbsternannte Kunstexperten im krassen Gegensatz zu dem, was die Urheber dieser Erscheinungen, also der Künstler spricht.
Diese Tendenz, die dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend nach ständiger „Aufklärung“ mit immer mehr „Informationen“ in immer schnelleren Zeitfolgen geschuldet ist führt nicht nur zu einer zunehmenden Trivialisierung und Profanisierung des eigentlichen Themas von Kultur. Es führt in der Folge in der zunehmenden Dominanz eines Wissenschaftsaberglaubens vor allem zu einer grundhaften Erschütterung unserer Zivilisation in das Urvertrauen eigener Perzeptionsfähigkeiten. Man beginnt sich selbst zu misstrauen in seiner eigenen Wahrnehmung.
Dazu gab es für mich vor ein paar Jahren ein Schlüsselerlebnis in Lorsch. Dort beobachtete ich zufällig ein gar nicht so altes Paar, das vor der Torhalle des Klosters stand und diese eine Zeit lang betrachtete. Nach einer Weile sagte er dann zu ihr: „Du -auf Phönix war das besser“.
Und genau so stehen die Menschen heute im Museum vor einem Bild und suchen auf dem Smartphone nach der „Erklärung“, nach Informationen zu dem, was sie ja direkt vor sich haben, weil sie ihren eigenen Augen, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen ja nicht einmal dem trauen, was auf dem Schildchen steht, das daneben hängt. Die Sucht nach Information ist, wie beim Junkie, dabei aber nie zu befriedigen. Wie als Zuflucht, in einem (genau deshalb unbewussten) Reflex, will man sich noch einmal vergewissern. Dieses Vergewissern betrifft nicht das Informationsbedürfnis. Es betrifft in letzter Konsequenz die Angst davor, ob es einen wirklich noch gibt, ob man selber tatsächlich „ist“.
So löst sich der Mensch im Verlust seiner Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung als Individuum auf. Ohne die Möglichkeit der eigenen Seins-Erfahrung im Medium der Kultur oder Religion bleibt ihm nur der Ersatz, das Künstliche statt Kunst, das Substitut, das ihm die Scheinwelt des Sichtbaren und der Oberfläche vorgaukelt und ihm so die Rückkehr zu sich selbst verstellt.
Genauso existentiell wie dieses Kulturbedürfnis für den Menschen ist, genauso einschneidend und umwälzend sind die heutigen Veränderungen in diesem Bereich, denn die Entfremdung des Individuums von einer Kunsterfahrung bedeutet für ihn die Entfremdung von seinem Sein in der eigenen Zeitgebundenheit, was ja allenthalben durch den Wahn nach In-Bildsetzung von Zeit, also Geschichte, in der Museumsinflation, dem Wissenschaftsaberglaube und grassierender architektonischer Rekonstruktionsfolklore deutlich wird. Wer also keine Geschichte mehr hat, der braucht wenigstens das Bild von Geschichte als Illusion und Ersatz um sich in seinem Menschsein nicht zu verlieren.
Jürgen Tietz: Ich würde gerne dieses Moment der Kunsterfahrung aufgreifen. Ist es nicht Kennzeichen der Zeit wie des Kunstwerks an sich, dass es für verschiedene Interpretationsansätze und Sichtweisen in unterschiedlichen Zeiten offen ist, die von außen an es herangetragen werden?
Der Kunsthistoriker hat ja einen guten Grund warum er nicht Künstler geworden ist. Im besten Fall tritt er ihm mit einer gewissen Demut gegenüber. Andererseits kann der Künstler den Moment des schöpferischen Aktes selbst auch nicht erklären, sondern er ist einfach vorhanden. Das führt dazu, dass es ein Innen und ein Außen gibt. Die Frage ist nur: verläuft dazwischen eine Mauer oder eine Membrane?
Peter Sichau: Weder noch. Dazwischen verläuft ein künstliches Konstrukt. Es wird durch die Gesellschaft geschaffen, weil sehr viel Geld dafür aufgewendet wird, um dieses Phänomen in ein gesellschaftsfähiges Kleid zu packen. Dem Künstler ist das letztlich aber völlig egal. Er malt das Bild nicht, damit danach ein Kunstwissenschaftler kommt, um das Schildchen zu entwerfen, das im Museum neben seinem Bild hängt. Der Künstler braucht den Kunstgeschichtler nicht. Vielleicht braucht er heutzutage das Museum, weil er dort auf die Umstände seiner Zeit im Kunstbetrieb trifft. Letztendlich ist Kunst aber immer autonom. Kunst wirkt für sich oder sie wirkt gar nicht. Sie braucht keinen Katalysator auf intellektueller Ebene, der erst einmal das Kunstwerk erklären müsste, damit es wirkt. Das würde sonst bedeuten, kurz vor einem Klavierkonzert tritt der Musikkritiker auf und erklärt worum es geht, damit das Publikum das auch richtig versteht was gleich folgt. An solchen Beispielen kann man am besten erkennen, wie lächerlich heutige Ausstellungskonzepte in Museen sind. Sie entstehen selbstreferentiell in dem Rahmen in dem sie kontextualisiert werden und das ist erst einmal der Kunstbetrieb, der von einem bestimmten Budget lebt und von bestimmten Orten, die immer wieder bespielt werden müssen, für die immer wieder neue lustige Themen erfunden werden, um das was in der Kunstwelt als Artefakt vorhanden ist, in immer neuen Konstellationen schmackhaft zu machen. Diese Entwicklung erzeugt eine Eigendynamik, die man vor allem in den reichen Industrienationen dieser Welt nur noch schwer unter künstlerischen Gesichtspunkten kontrollieren kann. Dahinter stecken wirtschaftliche, politische und von mir aus auch individuelle Gründe. Die heutigen Kunstmäzene mit ihren großen Museen, die großen Wirtschaftsführer, die sich das leisten – dahinter stehen doch ganz andere Motivationen als jene, die das Kunstwerk, die der Künstler ursprünglich intendiert hat. Hinzu kommt diese spezielle Veränderung unserer Rezeptionsmechanismen, durch die der Betrachter — wie gesagt — seinen eigenen, ursprünglich gegebenen Wahrnehmungsfähigkeiten mehr und mehr misstraut, so dass er sich in dieser Situation ohne äußere Hilfsmittel quasi hilflos fühlt.
Jürgen Tietz: Mich würde interessieren, warum diese Wahrnehmungsfähigkeiten fehlen. Handelt es sich um ein Kulturelles-, ein Bildungs- oder ein Gesellschaftsproblem?
Peter Sichau: Ich weiß nicht einmal ob es ein Problem ist oder nicht. Es ist erst einmal ein kulturgeschichtliches Entwicklungsphänomen, das etwa ab Beginn des 20. Jahrhunderts von allen führenden Philosophen beschrieben und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch in den westlichen Gesellschaften registrierbar wird. Die Begleiterscheinung, die aus diesem Wahrnehmungsverlust des Menschen in Folge der ständigen Beschleunigung und der Virtualisierung von Informationen herrührt, ist, dass er versucht, sich in seinem Sein in seiner Zeitlichkeit durch irgendwelchen neuen „Vergewisserungen“ zu identifizieren. Im Innersten ist uns allen klar, dass nicht die sichtbare Oberfläche unserer Scheinwelt und die wissenschaftlichen Beschreibungen dazu Erklärung des Seins sind. Und deshalb sind wir auf der Suche nach dem Dahinter, dem Davor und Danach. Zu dem Suchen dahinter gehört vor allem die Museumsflut, die seit dem 20. Jahrhundert, die skurrilsten Stilblüten treibt. Oder der Archäologiewahn, der meint alles, aber auch alles ausgraben und ans Tageslicht des Realen zerren zu müssen, um danach endlich als Bild, als Ding vor sich zu haben, was man meistens zuvor schon auch wusste aber nicht sah – und diese Abkehr vom Glauben, hin zum Aberglauben, das erzeugt Angst. Dieses Phänomen nenne ich die Pornographisierung des Menschseins. Jede auratische Qualität, die ihre Essenz eben aus der Verborgenheit, dem Kryptischen bezieht, wird zur Schau gestellt, wird bloßgestellt und bis in die kleinste Information atomisiert, wird entzaubert, weil man den auratischen Qualitäten misstraut, die die Menschheit bislang „lesen“ konnte und einordnen in ihrer Sinnhaftigkeit der eigenen Vergänglichkeit. Die totale Rationalisierung und Intellektualisierung der Grenzbereiche, die menschliche Erfahrung ausmachen, führt aber letztendlich zum Verlust dieser existentiell notwendigen Eigenschaft. Das ist kein Einzelphänomen in der Kultur, sondern eine Folge des seit dem 19. Jahrhundert im Abendland beginnenden Nihilismus, die man auf alle Lebensbereiche übertragen kann.
Jürgen Tietz: Ich möchte unser Gespräch gerne in das Deutsche Elfenbeinmuseum in Erbach zurückführen. Inwieweit ist dieser Erfahrungsraum dort geöffnet und gestaltet?
Peter Sichau: Obwohl es ganz unterschiedliche Aufgaben sind, ist unsere grundsätzliche Haltung in Lorsch und Erbach die gleiche, nämlich das äußerste Misstrauen gegen konventionelle Konzepte, wie eine Idee oder ein Thema zu vermitteln sei. Das Spannende beim Elfenbeinmuseum ist bei näherer Beschäftigung mit dem Ort und dem Kontext, dass der Ideenkosmos, der sich um diesen Ort spinnt, viel komplexer und tiefgründiger ist, als er zunächst erscheint. Das beginnt bereits bei der Statue Franz I. auf dem Schlossplatz, der weder in Uniform oder Ritterrüstung auftritt, auch nicht zu Pferde mit irgendwelchen Ehrenzeichen, sondern im Gewand eines römischen Senators oder eines griechischen Philosophen. Das war für mich das erste Fragezeichen an diesem Ort.
Dass es sich dabei nicht um eine Zufälligkeit handelt, bestätigt sich sehr schnell, wenn man sich näher mit Franz I. beschäftigt. Seine Idee eines Museums unterscheidet sich grundlegend von den geschäftsmäßigen Museumskonzepten, die heute betrieben werden. Franz I. war jemand, der aus der Ideenwelt der Aufklärung kommt. Aus einer umfassenden von Bildung getragenen Überzeugung, dass eine bestimmte Konstellation dieser Sammlung in einem bestimmten Kontext genau das beim Betrachter erzeugen kann, was Franz I. an den Originalschauplätzen erlebt hat. Diese Konsistenz zwischen dem nicht Physischen der Idee und Haltung über die Realisierung in der sorgfältigen, präzisen Gestaltung von Raum und Artefakt bis hin zur Auswahl der Sammlungstücke ist völlig singulär. Man könnte es ein Gesamtkunstwerk nennen. Die Erfahrung, die sich dem Betrachter daraus vermittelt in dieser Stimmigkeit, das ist das eigentliche Phänomen. Man muss sich in dem Moment darauf einlassen. Dabei ist es völlig unwichtig, genau zu wissen was da jetzt steht, ob diese Büste eine Kopie ist oder ein Original. Es geht also nicht um das Ding, um das Sichtbare, sondern um das Nichtsichtbare – das ist das Thema! Es geht nicht um das, was uns jeden Tag dinglich umgibt in einer myriadenhaften Vielzahl und in einer Geschwindigkeit, die wir gar nicht mehr messen können und letztlich auch in mentaler Erschöpfung gar nicht mehr messen wollen. Das ist auch der Grund warum wir in der nächsten Sekunde vergessen haben, was uns eben noch an der Großhirnrinde gestreift hat.
Der Tiefgang von Franz Sammlung in Erbach liegt in der ihr zugrunde liegenden Haltung und ihrer Konsistenz — und die speist ihre Qualität aus der Ideenwelt, die dahintersteckt. Das hat viel mit der Zeit zu tun in der er lebte und natürlich auch mit den Möglichkeiten, die Franz I. hatte. Diese Kombination macht Erbach zu einem so einzigartigen Ort in der Welt. Das Problem seiner Unbekanntheit und damit der bislang nicht vorhandenen Rezeption seines Werkes ist, dass er in Erbach ist. Wäre das in Paris passiert, sähe das heute ganz anders aus.
Jürgen Tietz: Bedingt sich das nicht auch ein Stück weit? Was wäre der Impetus ohne den Erfahrungsraum, der durch die Einrichtung des Schlosses so wie es ist entstanden ist?
Peter Sichau: Die Einrichtung dieser Räume ist die Folge des Impetus, d.h. des inneren Antriebes, der aus der Erfahrung entsprang, die Franz I. an den Originalorten seiner Reisen gemacht hat, seines besonderen Talentes und der ungeheuren Leidenschaft und wissenschaftlichen Akribie, mit der er sich jedem Gegenstand seiner Sammlung widmete.
Karl Weber: Da möchte ich einhaken: Franz I. hat seine Sammlungen bis ins kleinste Detail in riesigen Bänden aufgeschrieben. Alles was er empfunden hat, als er ein Objekt gefunden hat, was er besonders an ihm schätzt und so weiter.
Er setzt jedes Stück für sich selbst in einen Kontext und hinterlässt uns das!
Diese Form der Erklärung ist ziemlich einmalig. Er macht das für weite Teile seiner Sammlung. Insgesamt hat er 19 dieser so genannten Prachtkataloge geschrieben.
Für den Rittersaal, in dem seine historischen Rüstungen stehen, baute er extra ein Gewölbe aus Holz nach, weil er sich kein Steingewölbe leisten kann, um zu zeigen: das steht hier immer schon. Das ist ein gotisches Gewölbe. Er baut einen Mikrokosmos. Doch damit hört er nicht auf. Das Thema Elfenbein ist Teil seines groß angelegten Sozialprogrammes. Sammelnde Fürsten gibt es zur Genüge, siehe Wörlitz. Dass sich Franz I. so sehr um seine Leute kümmert, ist eine weitere Kulturleistung!
Peter Sichau: Es war nie seine Idee ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, aber das Ergebnis ist eines.
Karl Weber: Nennen wir es das Ergebnis eines umfassenden Denkens.
Jürgen Tietz: Indem er seine Räume dann für Besucher geöffnet hat, hat er ihnen eine Kunsterfahrung ermöglicht, die sie sonst nicht gehabt hätten.
Karl Weber: Er hat mehr oder weniger direkt gesagt ‚Bildung ist der Schlüssel zu allem’. Ich muss den Menschen diesen Schlüssel geben, auch und gerade im hintersten Odenwald.
Jürgen Tietz: Aber durch die Objekte vermittelt.
Karl Weber: Der Odenwald war ein Armenhaus und die Leute sehr einfach. Franz hat seine Sammlungen nicht zusammengetragen, um unter seinesgleichen besonders zu protzen. Er hat es als eine ‚Schule des Sehens’ verstanden, wenn dieser Begriff nicht so abgenutzt wäre. Indem er in dem strengstens evangelischen Erbach mit einer komplett bildfreien Kirche den Leuten das Elfenbein zeigt, gab er ihnen einen Impuls. Er hat ja nicht irgendwelche Hugenotten von irgendwo hergeholt, sondern es waren seine Leute, die das Elfenbein bearbeitet haben. Dafür brauchte er diese Schule des Sehens. Es ging nicht darum, die historischen Vorbilder zu kopieren sondern darum ‚fangt selber an euch etwas auszudenken’.
Jürgen Tietz: Warum muss es der Impetus sein, die Erfahrung, warum darf es nicht die Didaktik sein oder vielmehr, warum dürfen sich die Schichten nicht einfach durchdringen?
Peter Sichau: Vermittlung einer Sache ist im Gegensatz zur Erfahrung ein mechanistischer Vorgang wie in der Schule, in der ich jemandem etwas beibringen will und mir daher ein didaktisches Konzept konstruiere und denke, dass damit ein intellektueller Wissenstransfer gelingt. Das ist Vermittlung. Erfahrung ist etwas anderes. Erfahrung, wie sie in Erbach entsteht, ist Staunen über eine schöpferische Leistung, über der eine bestimmte Idee steht. Das führt dazu, dass jedes Einzelthema passt, jedes Detail, jeder Raum in einem Ganzen aufgeht. Das ist nichts Konstruiertes, sondern es ist aus der Idee selbst heraus entstanden, das Materielle illustriert sozusagen die Idee. Das Spannende an dieser Situation ist, dass hier jemand im Zeitalter des zusammenbrechenden Absolutismus an allen europäischen Höfen die führenden Vertreter der Aufklärung kennengelernt hat und diese divergierenden Anschauungen der Welt zusammenführt. Indem er die Ideale der antiken, aristokratischen Lebensführung, die Gerechtigkeit und Vernunft als oberste Lebensziele ansieht, mit dem anthropozentrischen Weltbild der Aufklärung, dass nämlich der Mitmensch genauso viel wert ist wie ich selbst, zusammenführt. Das Besondere ist hier also, dass aus unüberwindbar scheinenden Gegensätzen eine Synthese gelingt, mit den Mitteln der Kultur. Daraus entsteht der Kosmos des Franz. Das ist eben nicht konstruiert und daher der entscheidende Unterschied zu didaktischen Aktionen, um ein abgestecktes Ziel zu erreichen. Das wollte er nie. Er verhält sich einfach entsprechend seiner Überzeugung und daraus entsteht automatisch das, was wir noch heute in Erbach sehen. Genauso verhält es sich mit dem Entstehen von Kunst – dem liegt auch kein kalkuliertes Ergebnismodell zugrunde, sondern Kunst entsteht aus der Handlung des Künstlers, aus seiner Veranlagung und seiner Befähigung das Jetzt zu lesen und darzustellen. Die Elfenbeinschnitzerei ist daher eigentlich nur in der Handlung von Bedeutung. Franz initiierte die Schnitzerei, leitete seine Horndreher aus dem Odenwald an, gründete eine Zunft und richtete die erste Werkstatt in seinem Schloss ein. Das muss man sich einmal bildlich vor Augen halten! Er als Landesfürst stellt sich auf eine Stufe mit seinen Bauern, Bürgern und Handwerkern. Das ist ein durchaus revolutionärer Vorgang. Sicherlich war es auch Mode der damaligen Zeit, in der es chic war, in Adelskreisen handwerkliche Fähigkeiten zu besitzen.
Karl Weber: …wobei der dilletierende Graf etwas anderes war…
Peter Sichau: …es war sicher auch chic Musik zu schreiben, Instrumente zu spielen, Kunsthandfertigkeiten zu erlernen. Aber das in körperlichem Kontakt mit seinen Untertanen zu vollziehen und zur Grundlage eines Wirtschaftskonzeptes zu machen war völlig neu. Da kommt jemand eben nicht aus dem Volk, sondern von oben und hat erfahren: Bildung ist der Schlüssel zu allem. Das Bildungsideal ist der Grundpfeiler antiker Philosophie. Nur der Gebildete ist in der Lage, die wahren Prinzipien und letztendlich die Wahrheit selbst zu schauen und über dieses Schauen zu begreifen, dass der Mensch an sich gut ist und dass es seine Aufgabe ist, danach zu leben, das weiterzugeben. Dieses Bildungsideal setzt Franz mit den Möglichkeiten um, die er hat. Aber nicht, um schönes Elfenbein herzustellen, sondern um eine wirtschaftliche Verbesserung in seiner Grafschaft herbeizuführen.
So, und dann kommt die schnöde Aufgabenstellung für uns und die lautet: Hier haben sie zehn Umzugskartons, machen sie ein Elfenbeinmuseum. An diesem Punkt tritt dann unser latentes Unbehagen gegen klassische Museumskonzepte auf und die Frage: Was steckt hinter dem, was ich sehe? Was steckt hinter dem, wo ich das Schildchen dranpappe und wo derjenige, der anschließend darauf sieht nur das glaubt, was auf dem Schildchen steht? Der zum nächsten Schildchen geht aber überhaupt nicht angeregt wird, über das nachzudenken was er sieht, dahinter zu blicken, im wahrsten, im ikonographischen Sinne – also entsprechend der Aufgabe einer Ikone, die man nicht einfach nur ansieht, sondern hinter die „geschaut“ werden soll, um zu verstehen, was durch die Ikone eigentlich ausgedrückt werden soll. Das ist die Aufgabenstellung in einem Museum! Es geht also bei der Kunst-Erfahrung um einen performativen Akt des Betrachters, der nur durch eigenes Zutun das Geheimnis der Kunst lüften kann – nicht durch bloßes Konsumieren des Bildes. Es stellt sich daher die Frage: Wie können wir es erreichen, dass man nicht zuerst die Oberfläche sieht, die vermeintliche Information? Also müssen diese Artefakte in irgendeiner Form präsentiert werden, die die gewollte Interaktion auslöst. Das kann nach meiner Überzeugung nur in einer Form der Reflexion und Selbstreflexion passieren, des Nachdenkens des Besuchers über das, was gerade passiert oder noch besser, über das was mit ihm gerade passiert.
Das war konzeptionell unsere Ausgangssituation. Die Ausstellungsstücke, die als Massenprodukte ja vor allem zum Verkauf hergestellt wurden und keine Kunstwerke sind und es auch gar nicht sein wollen, besitzen zugleich eine unglaubliche hohe Ästhetik. Es sind geradezu hyperästhetische Artefakte, mit aller Feinheit und Akribie hergestellt, die alle aus dem gleichen Material sind. Alle sind materialhaft also radikal reduziert. In ihnen wird immer das Gleiche aus dem gleichen Material ausgedrückt. Hinzu kommt, dass es sich um Handwerk handelt. Es besitzt eine Ehrlichkeit, die Kunst nicht immer in allen Zeiten und Erscheinungsformen hat. Das führte uns dazu, dass wir diese schönen Dinge in einem Rahmen präsentieren wollten, der sie ganz schön sein lässt.
Jürgen Tietz: Was ja doch einer gewissen Inszenierung gleichkommt – einem ‚in Szene setzen’.
Peter Sichau: Ja, könnte sein, aber eigentlich ist es eher eine Reverenz. Eine respektvolle Haltung vor den Objekten und ihren Schöpfern.
Karl Weber: Es ist ein ‚in Wert setzen’. Es ist keine Inszenierung.
Peter Sichau: Wir versuchen nicht sie schicker zu machen oder umzudeuten.
Karl Weber: Es ist nur eine in Wertsetzung. Ich sehe darin einen erheblichen Unterschied zur Inszenierung.
Peter Sichau: Für mich ist es eine Art Verneigung. Ich versuche mit der gleichen Sorgfalt und der gleichen Mühe diesen Objekten eine respektvolle Präsentation zu schaffen, mit der sie hergestellt wurden.
Jürgen Tietz: Worin drückt sich für Sie der Unterschied zwischen in Wertsetzung und Inszenierung aus?
Karl Weber: In Wertsetzung bedeutet, dass ich es auf das Wesentliche beschränke und allen Schickschnack drum herum weglasse. Noch radikaler wäre es gewesen, die Objekte nur auf einen Tisch zu stellen, ohne alles. Aber das geht nicht. Das geht vielleicht beim übernächsten Mal. Das in Wertsetzen ist eine Übernahme wie bei Franz, der seine Rüstungen in einem gotischen Gewölbe aufstellt. Es ging bei den Elfenbeinen darum, sie in eine besonders schöne Umgebung zu bringen, damit sie etwas besser glänzen können.
Peter Sichau: Man muss dazu sagen, beim Rittersaal war es so, dass man den Dingen einen Rahmen gibt, in dem sie auch auftreten und wirken können. Man gibt ihnen eine Bühne, keine inszenierte, sondern einen nachgebauten mittelalterlichen Rittersaal, in dem sie so zur Geltung kommen, wie sie gemeint sind. Franz nimmt hier keine Interpretation vor. Er versuchte das ganz gradlinig. Im Fall der Erbacher Elfenbeinschnitzerei stellt sich die Situation dagegen etwas anders dar. Diese kunstgewerblichen Produkte gehören nicht in irgendeinen Kontext. Die Erbacher Rose, die Tabaksdosen und Broschen sind schöne Gebrauchsgegenstände. Von daher fanden wir es legitim, sie isoliert als ästhetische Objekte zu präsentieren und nicht in einem Bedeutungsrahmen, der ihren Sinn und Zweck noch einmal klarmacht. Im Ritter- und im Antikensaal schwingen noch einmal ganz andere Dinge mit. Es geht bei der In-Wertsetzung der Erbacher Elfenbeine darum, den Betrachter allein auf diese Stücke zu fokussieren. Das ist das Entscheidende. Diese Fokussierung kann natürlich auch erreicht werden, indem man sie auf ein schwarzes Tuch legt. Dabei entsteht aber eine gewisse Beliebigkeit. Das Problem ist, wenn man eine gewisse Anzahl dieser Stücke hat und wir haben ja viel viel mehr, als jetzt ausgestellt sind… ,
Jürgen Tietz: … wieviel Elfenbeine sind ausgestellt?
Karl Weber: …nur etwa 20 Prozent.
Peter Sichau: … eine Auswahl zu treffen. Die Stücke, die wir zeigen sind teilweise chronologisch geordnet und werden als Einzelstücke präsentiert. Aber eben nicht so, dass man von der Masse abgelenkt wird. Die Vitrinen sind ziemlich groß und die Stücke sind ziemlich klein. Der Rahmen, der dort geschaffen wird, zwingt den Betrachter eigentlich, jedes Stück in Ruhe zu betrachten.
Jürgen Tietz: Sie erhalten eine Autonomie.
Peter Sichau: Das ist genau das ist das richtige Wort – Autonomie. Sie sollen also für sich selber stehen. Da kommt der nächste Schritt, dass wir den Besucher in dem dunklen Raum mit seiner kontemplativen Atmosphäre ganz mit sich selbst alleine lassen. Der Rundgang beginnt im sogenannten Medienraum. Dort wird der Besucher mental ziemlich durchgemischt, weil die assoziative Bespielung mit Ton- und Bildfragmenten keine lineare Zuordnung zulässt: Kaum glaubt man, dass dort Franz aus seinen Tagebuchaufzeichnungen spricht, befindet man sich im 20. Jahrhundert und kaum ist das andere Assoziationsbild zuordenbar, spiegelt es sich an Wänden und Decken. Das dient dazu, die klassische Erwartungshaltung der Informationsvermittlung im Museum zu relativieren. Die Fragmente, die man im Medienraum wahrnimmt – oder auch nicht — bleiben als Fragmente in einem drin, ohne dass sie gleich zugeordnet werden können. Es sind Informationsfetzen, die man mitnimmt. Aber kaum ist man in der Ausstellung, wird man nicht weiter mit Informationen versorgt. Man tritt vor die wunderschönen Stücke, schaut sich jedes Einzelne an und sucht vergeblich nach einer zusätzlichen kognitiven Erklärung. Es gibt keinen didaktischen Hinweis. Und das ist das eigentlich Spannende: Der Besucher ist klassischerweise im Museum gewohnt, dass man ihm eine intellektuelle Krücke zur Verfügung stellt, damit er seiner eigenen Wahrnehmung gewiss ist. Natürlich könnte man sagen: das ist ein geschnitzter Elefant aus Elfenbein. Wenn man den Produzenten fragen würde, würde der auch sage: das ist ein geschnitzter Elefant aus Elfenbein. Das wird auch nicht besser mit einem Schild daneben auf dem steht: Elefant, Elfenbein, die Jahreszahl und wer es gemacht hat. Dadurch wir es nur schlimmer, weil man die Wahrnehmung reflexartig in verschiedene intellektuelle Informationen zerlegt, die aber nur etwas mit Vermittlung zu tun haben, mit Wissensaufnahme aber nicht mit dem Genuss eines ästhetischen Artefaktes. Dieser Genuss eines ästhetischen Artefaktes ist aber letztendlich das Ziel. Die Idee ist nicht einmal, dass man dort ein paar schöne Elfenbeinstücke anschaut, sondern die Idee ist, dass im Betrachter etwas induziert wird, das durch das Objekt und die In-Wertsetzung, die Präsentation dieses Objektes ausgelöst wird.
Jürgen Tietz: Also naive Wahrnehmung im Sinn Schillers?
Peter Sichau: Ganz genau – passt ja auch in die Zeit. Das ist etwas, was uns verloren gegangen ist. Deshalb ist ja niemand so glücklich wie das Kind. Es ist in der Lage, seine Umwelt wertfrei aufzunehmen, ohne stets bevormundende Erklärungsversuche. Das ist die ideale Voraussetzung, damit Kulturleistungen wirken können. Das ist auch der Grund warum in größeren Veranstaltungen, wo diese didaktischen Hilfsmittel nicht zur Verfügen stehen, Kunsterfahrung bis heute wirkt – in großen Konzerten oder in guten Theateraufführungen. In allen Veranstaltungen, wo es möglich ist eine bestimmte Situation zu schaffen, in der ein Funke überspringt. Das sind die Momente, in denen dieses Prinzip wirksam ist. Ich könnte hier wieder den Bogen zur Religion schlagen. Dort ist es ganz genauso. Die Tatsache, dass solche leibhaftigen, also „Live“-Veranstaltungen auch heute fast immer ausverkauft sind, zeigt, dass das Mediale und Digitale nicht in der Lage ist, das Originale und Authentische zu ersetzen. Adorno hatte immer Recht. Das was im Menschen als Kultur erlebbar werden kann, ist nie der Ersatz, das Substitut sondern nur das Original. Die Verwässerung oder Vernichtung der originalen Erfahrungsmöglichkeit durch den künstlichen Eingriff, einer Inszenierung, einer Erklärung oder einer wie auch immer veränderten Kontextualisierung, hatten wir in Erbach nicht vor.
Im Schloss kam ein weiterer Aspekt hinzu. Wir mussten dort mit dem Raum umgehen. Wir sind nicht auf der grünen Wiese, wir sind auch nicht in einem großen Halle. Wir standen vor der Frage, in den bestehenden ehemaligen Wirtschaftsräumen des Schlosses zu entscheiden: Suchen wir den Kontakt mit dem Raum – (lacht) es gab immerhin einen, der fast noch zu gebrauchen gewesen wäre, aber auch nur fast – oder suchen wir einen Zwischenweg in einer Art Raumdramaturgie? Oder gehen wir den ganz anderen Weg, mit dem ausgeblendeten schwarzen Raum, mit dem roten Steg und den isolierten Vitrinen? Die Entscheidung, eine radikale Reduzierung vorzunehmen, entspringt der Idee, die Aufmerksamkeit der Besucher nur auf das Objekt zu lenken und durch nichts abzulenken. Nicht einmal der historischen Raumsituation sollte ein vermeintlicher Bedeutungsgehalt zugewiesen werden. Sonst hätte ich wieder erklären müssen: Dieser Raum war einmal die Wäschekammer usw. Diese Vermischungen hätte von der Selbstwahrnehmung abgelenkt. Der Mensch ist für nichts so dankbar wie für Ablenkungen. In dem Moment, in dem er auch nur eine leichte Ablenkung verspürt, ist er sofort auf der Suche nach einem Muster, nach einem bekannten Element, an das er sich klammern kann und mit dem er sich eine Erklärung schafft: ‚Aha, so ist das gemeint’.
Jürgen Tietz: Wäre der ideale Besucher derjenige, der mit einem Lächeln auf den Lippen kommt und sagt: ‚Schön’?
Peter Sichau: Der ideale Besucher wäre derjenige, der erneut in die Ausstellung geht, weil er sich denkt, das habe ich nicht ganz verstanden.
Karl Weber: Ich unterschreibe alles was Peter Sichau gesagt hat, wir sind da nur Nuancen voneinander entfernt. Das Problem ist, dass 95 Prozent der Besucher dieses Elfenbeinmuseums eine komplett andere Erwartungshaltung haben…
Jürgen Tietz: … die dort enttäuscht wird.
Karl Weber: … auf die radikal möglichste Art enttäuscht wird. Ganz wenige erkennen den wirklichen Wert dieser Präsentation und denken darüber nach, weil im alten Elfenbeinmuseum die Dinge so übererklärt waren. Ein anderes, jüngeres Publikum anzuziehen wird aber schwierig. Durch die Ächtung des Elfenbeinhandels und dessen Verbot 1974 haben sie geradezu einen Ekel vor dem Material.
Meine Großmutter war auf ihren Elfenbeinschmuck mehr als stolz.
Es heißt zwar Deutsches Elfenbeinmuseum, aber die Schreine und Bucheinbände des 10. oder 11. Jahrhunderts fehlen ja alle, die Sammlung setzt erst sehr viel später ein. Elfenbein war das Material der Kaiser und Könige.
Jürgen Tietz: Diese spätantiken und frühmittelalterlichen Elfenbeine spielten für Franz offenbar keine Rolle.
Karl Weber: Nein, er wusste nur, dass es ein sehr nobilitiertes Material war. Inzwischen ist dieses Material ideologisch komplett umgedreht durch eine gesellschaftliche Verabredung, seine gesellschaftliche Ächtung. Doch auch wenn ich das Material heute ächte und damit die Rose und die Schnupftabaksdose, wird der Elefant trotzdem nicht mehr lebendig.
Peter Sichau: Diese Aspekte belegen ja eigentlich die Schlüssigkeit des Konzeptes, dass die Leute mit den klassischen Erwartungshaltungen „enttäuscht“ werden. Genau die klassische Erwartungshaltung wollten wir ja auch nicht bedienen. Also fangen die Leute an zu überlegen…Und damit findet in gewisser Weise eine Auseinandersetzung statt. Dass Elfenbein heute so geächtet wird, ist ja vor allem ein medial konstruiertes Phänomen. Die wenigsten Leute haben je mal einem Elefanten gegenübergestanden oder wissen, um was es bei dieser Thematik insgesamt oder speziell für die Odenwälder Schnitzerei überhaupt ging. Diejenigen, die die tatsächlichen Zusammenhänge kennen, würden nämlich wissen, dass die Verwendung des Elfenbeins in Erbach nichts mit der globalen Problematik des Themas im 20. Jahrhunderts zu tun hat, nämlich mit der massenhaften Wilderei und dem Abschlachten der Elefanten. Konditionierung des menschlichen Geistes durch mediale Sozialisierung, der man nicht entrinnen kann ist es, was die beiden Museumskonzepte in Lorsch und in Erbach im Kern thematisieren. Es gibt zwei Möglichkeiten, dem zu begegnen. Entweder man sagt, ja, das ist die Zeit, der Zeitgeist und dem muss man irgendwie entsprechen um die Menschen zu erreichen. Deshalb gibt es im Museum nicht nur ein Handout, sondern gleich auch noch einen Audioguide, eine Erklärung mit Touchscreen und es gibt logischerweise die Elfenbein-App, die man sich im Museum aufrufen kann, zusammen mit der Franz-App, die einem erklärt, wie man das zu verstehen hat was man sieht. So funktionieren 99 Prozent aller Museen, als schicke Kunstboutiquen, die mit einem irrwitzigen Aufwand eingerichtet werden. Man könnte jetzt wieder die Parallelen zum Kirchenbau ziehen — schicke Kaufhäuser, in denen irgendeine Ware angeboten wird….Oder aber man entscheidet sich für den anderen Weg, den wir bevorzugen.
Ein wesentlicher Grund für uns war, dass die antiken Vorstellungen, die Franz so geliebt hat und mit denen er sich ein Leben lang auseinandergesetzt und identifiziert hat, genau den Weg beschreiben, den wir für den richtigen halten: Der Mensch muss in sich selber Wahrnehmung entwickeln. Im Spüren der eigenen Wahrnehmung über das Artefakt erkennt der Mensch sich selbst. Das ist der Sinn einer Kulturhandlung, der Sinn von Kunst und Kult. Wenn der Künstler vor der Staffelei steht, geht es nicht um Freizeitbeschäftigung. Dann geht es immer um das Wesentliche.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die inflationäre Weiterentwicklung und Kommerzialisierung des Museumswesens nicht dadurch besser wird, dass man das Angebot ständig verbreitert und die technischen Raffinessen und Sensationen erhöht. Ganz im Gegenteil. Es reichen ganz einfache Mittel wie in Erbach. Das ist der Beleg dafür, dass es nicht auf das Geld ankommt. Günstig ist ja schon gar kein Begriff mehr für das, was wir in Erbach in so kurzer Zeit verwirklicht haben. Eine starke Idee, wie sie Franz hatte, ist in der Kunst immer radikal. Sie bildet den Ausgangspunkt, ob eine Wirkmächtigkeit eines Konzeptes eintritt oder nicht. Das ist im Kleinen im Elfenbeinmuseum spürbar – hoffe ich zumindest. Aus dieser grundsätzlichen Haltung betreiben wir alle unsere Projekte, auch wenn sich die Inhalte natürlich bei einer Schule, einem Theater oder einem Museum unterscheiden. Aber diejenigen, mit denen wir es zu tun haben, nämlich Menschen, sind immer die gleichen und der Mensch der modernen Informationsgesellschaft hat in der Regel immer die gleichen Dispositionen. Demzufolge geht es also auch immer im Kontext von Kunst oder kulturellen Handlungen um Erfahrung, nicht um Vermittlung.
Jürgen Tietz: Ich würde gerne noch einmal das „andere“ Besucherpublikum ansprechen. Wie kann das nach Erbach gelockt werden? Ist die Idee so stark, dass es auf jeden Fall dorthin kommt?
Karl Weber: Extrem schwere Frage! Es gibt ja so etwas wie Kulturtourismus, aber dessen Pfade sind in weiten Teilen ziemlich ausgetrampelt. Das Museum wird nicht im ersten sondern vielleicht erst im dritten Moment zur Besucherattraktion werden, wenn es angefangen hat sich rumzusprechen als ein fast magischer Ort! Mir hat nach der Eröffnung jemand erzählt, dass er von der Art des Museums angefasst war. Das ist etwas, was man weitergibt. Die Fotos des Museums sind relativ wichtig, denn sie geben ein bisschen davon in das Auge hinein, aber das muss erst wachsen. Man braucht Geduld.
Es gibt Leute, die aus der Ausstellung kommen und sagen, dass es ihnen toll gefallen hat. Aber es gibt auch eine Reihe von Leuten, die vor den Kopf gestoßen sind…
Jürgen Tietz: Noch einmal nachgehakt. Das ist in Lorsch ja genau die gleiche Herausforderung: Wie bekomme ich eine Klientel nach Erbach dorthin, dass das Konzept nicht nur versteht und annimmt, sondern es weiterträgt?
Peter Sichau: Das ist gar nicht die Frage. Wer in der Ausstellung war, der trägt die Idee weiter. Da schulen Museum und Konzept den Besucher, indem sie einlösen was sie behaupten. Die Menschen, die verstehen was gemeint ist, kommen von selbst auf die Fragen, was das eigentlich für ein schräger Ort ist und beschäftigen sich damit, wer dieser Franz war. Mit dem Philosophenmantel auf dem Schlossplatz und mit so einem Ausstellungskonzept; Hirschgeweihe, Ritterrüstungen und die Elfenbeine – das muss man erst einmal unter einen Hut kriegen. Die Leute, die dafür offen sind, werden sich fragen, wie das alles zusammenhängt. Und in dem Moment haben wir das richtige ausgelöst. Diejenigen, die auf konsumtivem Niveau eine Art Bedienung erwarten, dass sie jetzt einen netten Museumsrundgang erleben, werden enttäuscht sein. Aber auch damit hat das Konzept seine Wirkung erreicht. Die Multiplikation erfolgt natürlich in erster Linie durch diejenigen, die es gut finden und weitererzählen. Für das kleine Erbacher Museum wäre es auch nicht gut, hunderttausend Besucher durch die Ausstellung zu schleusen. Das wäre auch in dem kleinen Museum nur schwer steuerbar.
Peter Sichau: Das Elfenbeinmuseum ist kein individualistischer, autistischer Architektenentwurf, der Architektur in den Vordergrund spielt, sondern es steckt dieselbe Haltung dahinter, die uns auch bei all unseren anderen Projekten beschäftigen. Die vielen Bezüge zu dem Ort und natürlich zur Aufgabe und die tatsächlichen immateriellen Qualitäten, die diesem Ort innewohnen, das hat die Konzeption dieses Museums maßgeblich bestimmt. Insofern reagieren wir immer nur auf das, was wir vorfinden, ohne im Vorhinein zu wissen, wie das Ergebnis dann als Architektur oder formale Hülle aussieht. Im Ergebnis war uns hier aber schnell klar, dass alle dingliche Erscheinung im Sinne von gestalteter architektonischer Intervention eine spezielle, sinnliche, haptische, materielle Qualität haben muss, mit einer ganz individuellen Gestalt. Genau wie diese Elfenbeine, wenn man sie anfasst. Das ging von der eigenhändigen Bestückung der Vitrinen, bis in jedes Detail, selbst bis zu den Eingangstüren, die von uns in der Tischlerwerkstatt selbst angefertigt wurden, als Abbild des Gestaltungsprinzips der Elfenbeine, das da lautet: obwohl alle Stücke dem gleichen Typus angehören, sie alle ähnlich aussehen, sie alle aus dem gleichen Material, in der gleichen Farbigkeit existieren, wird man keine zwei Erbacher Rosen finden, die genau gleich sind (Leibniz lässt grüßen). Das ist ein besonderes Phänomen der Odenwälder Elfenbeinschnitzerei! Daher war klar, dass nichts Vorgefertigtes, Stereotypes oder Maschinell-Industrielles verwendet werden darf. Das Leder auf dem Steg – jede Pore jeder Quadratmillimeter ist nicht vergleichbar mit dem nächsten, ist etwas Gewachsenes, Organisches. Das ist genau, wie die Natürlichkeit des Elfenbeins, das eben kein totes Material, kein Kunststoff ist. Davon ist die sinnliche Dimension unserer Konzeption extrem stark bestimmt worden. Selbst im Medienraum, der relativ laut und bedrängend ist. Man arbeitet auf der einen Seite mit ganz subtilen Mitteln, die man sich erschließen muss und auf der anderen mit Sachen, denen man nur schwer ausweichen kann. An dieser Form von Dialektik hätte Franz sicher seinen Spaß gehabt…
Karl Weber: Viele Schlösser sind Kunsthistoriker-Schlösser. Nur ganz wenige Schlösser sind wirklich authentisch. Das ist der Vorteil von Erbach. Weil es so lange in Familienbesitz war, ist dort niemand glättend darüber gegangen.
Anderes Thema: Lorsch. Sie kennen die Documenta 1 in der ausgebombten Orangerie? So etwas wäre heute nicht mehr machbar. Es war aus der Zeit und den Dingen, das damals in dieser Form zu machen.
Das fällt mir zu Lorsch und der Zehntscheune als erstes ein. Dass es dort jetzt eine High-End-mäßige technische Ausstattung hat, ist allein der Zeit geschuldet.
Jürgen Tietz: Letztlich die nachwirkende Hand des Kontextes, aus dem ich mich nicht befreien kann, weil ich immer in meiner Zeit handle.
Karl Weber: Natürlich. Das ist ja genau der Irrtum des White Cube der alles ausblendet und sagt: ‚Ich bin als Ort autonom’.
Er ist als Ort natürlich nicht autonom.
Deswegen ist das Museum an ein bestimmtes Ende gekommen – glaubt es aber nicht.
Erbach und Lorsch sind der Versuch eines Anstoßes, darüber zu sprechen. Aber niemand in der Museumswelt hat ein irgendwie geartetes Interesse daran mitwirken zu wollen, weil die Maschinerie zu gut geölt ist und aus tausend Gründen funktioniert.
Peter Sichau: Warum sollte man das auch tun? Lieber beschwichtigt man sich mit immer neuen Worthülsen und vermeintlich neuen Konzepten. Die Anzahl derer steigt ständig, die dort munter im eigenen Saft kochen und damit gut zu rechtkommen, genauso wie die Anzahl der Museen stetig steigt.
Jürgen Tietz: Wodurch gleicht das Konzept in Lorsch dem in Erbach?
Karl Weber: Kein Schild, nur eine reine in Wertsetzung. Aber das Objekt wird, weil es sich um Kunst handelt, die aus einem Kontext gerissen wurde, nur durch das Wort des Begleiters – ja ich komme auf den Begriff zurück – in Wertgesetzt, der mit mir durch die Zehntscheune geht oder durch den Dialog mit ihm.
Das Ganze würde im klassischen Museumskontext überhaupt keinen Sinn machen. Die Kombination der Lichtinszenierung mit dem Verbalisieren des Begleiters setzt bei mir als Besucher einen wie auch immer gearteten Prozess in Gang. Und der ist in unterschiedlichen Köpfen ganz unterschiedlich. In Lorsch stimmen auch Innen und Außen überein – ganz unabgesprochen. Das ist ja das Tolle.
Jürgen Tietz: Inwieweit?
Karl Weber: Außen haben wir auch eine Komplettreduzierung. Und auch dort geht es nur um das Denken…
Jürgen Tietz: Wobei ich in Lorsch über die Wort-, Gesprächs-, Erlebnisvermittlung – was ist es eigentlich genau an der Stelle? – nicht ganz so intensiv auf das Objekt vertrauen kann wie in Erbach, wo ich über das Wahrnehmen zum Erleben und vielleicht zur Verwunderung gelange…
Karl Weber: Das Objekt trägt die Spur des Ganzen in sich und hilft mir damit, das was verschwunden ist, in irgendetwas in mir selbst hineinzubringen.
Lorsch ist der perfekte Ort der Vergänglichkeit.
Jürgen Tietz: In der Reihung der Fragmente?
Karl Weber: Es geht nicht, dass ich die Stücke einzeln in die Hand nehme. Dazu sind die Objekte zu schwer. Wir haben eine Situation, wo das mit kleineren Teilen ginge. Sonst würde ich die Objekte nehmen und aus dem Glas oder den Krümeln eine Geschichte erzählen. Lorsch ist 500 Jahre als Kloster verlassen. Nur so kann ich es entstehen lassen.
Jürgen Tietz: Also die Leerstelle überbrücken?
Karl Weber: Nein, die Leerstelle füllen. Bevor wir angefangen haben, war Lorsch eine große Produktenttäuschung. Ich bekomme versprochen es ist ein Welterbe und ich bekomme versprochen es ist ein Kloster. Aus meinen klassischen Erwartungshaltungen weiß ich: Welterbe ist immer was Wahnsinniges.
Kloster habe ich auch schon 50 gesehen. Die sind immer groß, immer mächtig.
Und dann komme ich nach Lorsch und dort steht etwas in der Größe einer besseren Doppelgarage, sieht ganz komisch aus – und ich verstehe es nicht.
An dieser Stelle muss ich anfangen, die unterschiedlichen Ebenen zu erzählen.
Lorsch und Erbach waren zwei unabhängig voneinander laufende Prozesse. Wir ( Herr Sichau und ich) sind irgendwann einmal in Lorsch spazieren gegangen und haben gesagt, da muss etwas passieren. Das ganze Lorsch war ein einziger Müllhaufen. Geld gab es eigentlich nur für einen kleinen Abschnitt der Zehntscheune. In dem Moment indem wir angefangen haben, war nicht klar, ob wir für das Ganze Geld bekommen werden. Dann kam ein Investitionsprogramm, wir konnten Anfangen das Ganze zu denken.
Klar war, dass wir ein offenes Verfahren machen, einen Wettbewerb und wir hatten natürlich keine Ahnung, was dabei rauskommt. Es hätte komplett anders ausgehen können. Es hätte zu einem diametral entgegengesetzten Konzept führen können.
Herr Sichau war in der Jury, er hat die unterschiedlichen Ansätze der Entwürfe gesehen. Gewonnen hat letztlich der Entwurf (von Topotek aus Berlin), der auch die Leerstelle Lorsch sah und alles Unnütze weggefegt hat, um einen Ort zu schaffen, der dich auf dich selber zurückwirft.
Peter Sichau: Der erste Reflex als wir über das Gelände in Lorsch gegangen sind war, Entrümpeln — und zwar Alles! Vom Kräutergarten über Papierkörbe bis zur Beleuchtung, alles, was dem Ort wesensfremd ist, weil es sich nämlich in Lorsch geologisch und topographisch um eine Sanddüne handelt, eine Düne in der Rheinebene. Und diese Düne war in der Landschaft, in der Bebauung des Ortes, in der Verunklärung des Klosterareals überhaupt nicht mehr lesbar. Lorsch ist von der Aufgabe daher viel komplexer als Erbach und die Umsetzung hat demzufolge auch viel länger gedauert und dauert ja auch bis heute noch an. Erbach ist ein Ort, an dem es einen vorgegebenen Raum gab oder eine Raumkonstellation, in der von außen kommende Stücke gezeigt werden sollten. Insofern gibt es dort einerseits die Ebenen der Handwerklichkeit und Architektur und andererseits der Konzeptfindung, wie man diese Stücke zeigt. Das ist in Lorsch völlig anders. In Lorsch haben wir einen Innenraum und einen Außenraum. Wir haben einen Ort mit einer über tausendjährigen Geschichte, von denen zumindest 400 Jahre sehr bedeutend waren, und wir haben eine Vielzahl von Spuren in Physis, an Artefakten, an Spolien, an archäologischen Funden. Dazu haben wir verschiedene Bauwerke, die in dieser Konstellation erklärungshaft überhaupt nicht zusammenpassen. Alles was dort vor einen tritt, steht im Widerspruch zum Nächsten. Trotz dieses äußeren Wahrnehmungskonflikts besitzt der Ort ein hohes Maß an auratischen Qualitäten. Nicht nur die Gebäude sprechen in einer bestimmten Art und Weise zu einem, die relativ leicht lesbar ist, weil sie in ihrer Entstehungsgeschichte typologisch so einfach zu identifizieren sind, sondern auch die Raumform mit der Sanddüne und der Klostermauer, die zum größten Teil noch erhalten ist. Die Bewegung der Topographie gibt einem eine Ahnung, dass man auf etwas steht, das mit Resten von Vorgängerbauten aufgefüllt ist. Die karolingische Klosteranlage war ja innerhalb der Klostermauer vollständig bebaut. Man bekommt nach wie vor eine Unzahl an Informationen oder Botschaften gesendet. Ich bin ja ein Vertreter, der an so etwas glaubt. Die weitere Beschäftigung mit dem, was äußerlich so widersprüchlich ist, hat dann sehr schnell gezeigt, dass diese Widersprüchlichkeit das eigentliche Thema in Lorsch ist. Die mehr als tausendjährige Geschichte mit den 500 Jahren Verdichtung und Nachnutzungen machen es ebenso wie die Interventionen und Veränderungen der Raumsituation unglaublich schwierig, irgendetwas einer konkreten Phase zuzuordnen. Man kann zwar ein Bauwerk, dass noch steht in irgendeine Phase datieren – aber das hilft einem noch gar nichts. Die gesamte Forschung zu Lorsch stellt sich heute zudem entweder als bewusster Täuschungsversuch, als gut gemeinte Interpretation, Vision oder schlicht als schlampige wissenschaftliche Forschung heraus. Es trat dann als Erstes der Reflex auf, der in solchen Situationen, natürlich initiiert von Kunsthistorikern und Archäologen, immer aufkommt: ‚Wenn wir das jetzt noch nicht wissen, dann wollen wir es aber jetzt erfahren und dafür machen zuerst mal ein großes Forschungsprogramm.’ Das ist ja so typisch. Der heutige „aufgeklärte“ Mensch meint nämlich immer zuerst: das muss er jetzt rausbekommen. Das kann er jetzt nicht so stehen lassen. Ausgeschlossen! Das wäre unmöglich. Womöglich wüsste man dann ja etwas nicht…
Unsere Aufgabenstellung in Lorsch war, dass die Zehntscheune als Lager für die Funde des Areals dienen sollte. Genauso schnell wie der Reflex vorhanden war, mit Gewalt und mit viel Geld alle Informationen buchstäblich zu Tage zu fördern, genauso schnell gab es den Reflex, wenn wir schon Stücke haben, die dort gelagert werden, müssen wir sie auch alle ausstellen. Dieser stereotype Mechanismus klackte wie ein Dominoeffekt ein, ohne, dass man sich die Frage stellte, was das eigentlich an einem Ort soll, an dem niemand weiß, wie alles zusammenpasst. Mit jeder Scherbe, die man dort bereits in zwanzig Zentimeter Tiefe aus dem Boden kratzen kann, lösen sich die Fragen nicht auf, sondern werden immer komplizierter.
Karl Weber: … und nichts stimmt!
Peter Sichau: Für mich kam noch ein wesentlicher Aspekt hinzu. Lorsch ist ein sakraler Ort – ein Kloster. Nicht nur die Kirchenbauten, die heute auf dem Gelände zu identifizieren sind, sondern auch alle anderen Bereiche waren monastisch genutzt. Die Lorscher Bauten sind daher nicht nur in ihrer Qualität etwas Besonderes, sondern auch indem, was der Ort bis heute tradiert. Auratisch — nicht materiell! Materiell gesehen ist die Zehntscheune einfach eine Haus aus dem 16.-18. Jahrhundert, nichts Überwältigendes. Aber sie bildet eine Art Zeitnagel in der Geschichte der Anlage. Insofern wurde das Thema Zeit schnell zum Ausgangspunkt des Konzeptes, ebenso wie die Themen Aura und Spur im Sinne Walter Benjamins. Wir haben dort nämlich jede Menge Spuren und auratische Qualitäten. Aber wie sind diese einzuordnen? Welchen Faktor spielt dabei das Thema Zeit vor dem Hintergrund, dass man ja seit dem 19. Jahrhundert – dem Beginn des abendländischen Nihilismus – ständig versucht hat, Erklärungen zu basteln, was dort passiert ist? Insoweit ist unsere Herangehensweise genau die gleich wie in Erbach. Wie sollte es auch anders sein. Man kann seine Denkweise nicht einfach umstellen. Erbach ist so etwas wie: Ich gehe in ein schönes Café und genieße ein gutes Stück Torte. Dort ist ästhetische Erfahrung das Thema. Es will auch nicht mehr sein. In der Art und Weise der Präsentation soll es Besucher anticken und sagen: ‚Wenn du es selber nicht verstehst, tut mir leid, dann hilft Dir auch Dein Smartphone nicht.’
In Lorsch liegen dagegen nur tote Bruchstücke. Ihre Bedeutung gibt es ohne den Zusammenhang nicht mehr. Ob man daraus also heute Schotter macht oder nicht, ist egal. Alle Erklärungsversuche sind gescheitert. Ob ich jetzt zehn Kirchenfensterfragmente oder römische opus sectile mehr oder weniger besitze, spielt für das Grundsatzthema überhaupt keine Rolle. Der Dissens zu unserer Sichtweise war, dass die Kunsthistoriker und Archäologen das natürlich mit ihrem wissenschaftlichen Tunnelblick ganz anders sahen, sofort alles sammeln, archivieren, kartographieren, einsortieren und evaluieren wollen, damit alles seinen ordentlichen wissenschaftlichen Gang gehe. Alles andere wäre ja auch der blanke Horror. Wir haben gesagt, alles was hier rumliegt ist uns so was von unwichtig. Das ist alles nur eine Ansammlung von Steinen – tote Materie. Daraus entstand dann folgerichtig die Idee, dass es keinen Sinn macht, diese Spolien in einer mehr oder weniger willkürlichen Auswahl zu präsentieren. Denn was sollte das auch zeigen? Es gibt das sogenannte Museumszentrum zum Kloster nebenan, wo eine klassische Präsentation der wesentlichen Fundstücke des Klosters angeboten wird. Da steht dann neben einer Spolie auf dem Schild: ‚Bogenfragment, Sandstein, ca. 9. Jahrhundert’. Aha! Und dann wird vielleicht noch versucht, das Bogenfragment mit einer „Ergänzung“ tatsächlich zu einem Bogen zu ergänzen. Denn das ist ja keinem zuzumuten, sich das selber vorzustellen. Das ist genau das, was ich meine. Alles findet in der Großhirnrinde statt. Man geht aus dem Museum und meint, man weiß was Lorsch ist — dabei weiß man überhaupt nichts. Was Lorsch ist weiß man erst, wenn man sich auf den Ort einlässt. An dem Punkt war klar, es geht nicht um das Materielle, sondern es geht nur um das Immaterielle und das, was es heute vielleicht noch als Spur repräsentiert.
Karl Weber: Das Innen und Außen wird nur durch die Anregung zum Leben erweckt.
Peter Sichau: Es ist ein sakraler Ort und Kultur und Religion, zwei Seiten derselben Medaille. Beide Seiten greifen hier ganz stark ineinander. Das ist aber an sakralen Orten immer der Fall. In Lorsch ging es nicht darum, etwas zu zeigen oder zu rekonstruieren, um das Verständnis dieses Ortes zu befördern. Dort ging es uns darum, das Materielle, Dinghafte, Er-Scheinende zurückzudrängen, einen Ort zu schaffen, an dem es nichts zu sehen gibt (lacht). Das ist natürlich ein bisschen schwierig. Daher kam die Idee auf, wir nehmen das Artefakt als solches als Exempel als Ausgangspunkt. Dieses Stückchen, das wir dort im Boden finden, das zu einem bestimmten Zeitpunkt von jemandem gemacht wurde – eine Glasscherbe oder sonst etwas – und behandeln es als das, was es ist – tote Materie. Genauso wie eine Partitur erst mal tote Materie ist. Es sind ja nur Punkte und Zeichen auf Linien, die an sich, ohne Zusammenhang und Kontext, keinen Wert haben. Genau so wie in der Literatur die Buchstaben, die aneinandergereiht sind, zugegebener Maße in einer gewollten Reihenfolge, erst mal für sich keine Bedeutung haben. Wertvoll, also In-Wert- oder besser In-Bedeutung gesetzt wird es in der Kunst und in der künstlerischen Handlung erst durch denjenigen, durch den es letztendlich – ich will nicht sagen transzendiert wird – aber in den Raum kommt und von jemandem anderen gelesen, erkannt, verstanden werden kann. Damit sind wir wieder bei der Religion. Religion braucht dieses interpretatorische Moment aus Materie nicht. Sie macht es aus dem Wort, aus der Idee, dem Logos selber. Er kommt in den Raum durch den Priester statt dem Künstler, durch Transsubstantiation statt durch Interpretation.
Die Idee in Lorsch war nun diese Kulturerfahrung als Abbild des menschlichen Seins im Schöpfungsakt des Künstlers, mit den bedeutungslosen Artefakten der Lorscher Fundstücke ähnlich zu erreichen, wie es der Künstler mit den bedeutungslosen Artefakten von Noten, Worten oder Stofflichem tut, die er erst durch seine Werkhandlung in den Raum bringt. Ähnlich also wie ein Pianist, der das Stück A, B oder C spielt und daraus für den Zuhörer die Kunsterfahrung X, Y oder Z sein kann, also z.B.: tief emotional, merkwürdig berührt, überwältigend oder depressiv etc. Es handelt sich wohlgemerkt immer um die gleiche Vorlage und den gleichen Musiker. Ausgangspunkt oder besser Katalysator zur Kunsterfahrung ist also der Künstler, der die Vorlage benötigt, um in der Handlung etwas zur Wirkung zu bringen. Die Idee in Lorsch war jetzt: Nehmen wir einmal an, das Thema ist Zeit und Vergänglichkeit, also das eigentliche ontologische „Problem“ des Menschen in seiner Zeitbedingtheit, also letztlich das Thema jeder Religion. Jeder gläubige Mensch weiß nun, er kommt irgendwo her und sein Leben endet unausweichlich irgendwann und als Teil dieses kosmologischen Prinzips ist er sich sicher, dass es egal ist, ob er heute oder morgen geht, basiert doch alles auf dem Gesetz des ewigen Wechsels, des Entstehens und Vergehens, des Weltenprinzips in dem alles einem höheren Sinn, der Idee des Guten unterliegt. Im An-Vertrauen auf dieses Prinzip liegt der Schlüssel der Erlösung von der Zeitlichkeit des eigenen Seins.Demgegenüber ist der „moderne“ Mensch unserer aufgeklärten, westlichen Individualgesellschaften, der nicht oder nichts mehr glaubt, beschränkt auf das Diesseits des Realen, Er-Greifbaren und daher gekennzeichnet durch seine Angst vor dem unausweichlichen Wandel, vor Kontrollverlust über das, was als nächstes kommt, das man aber selber steuern zu müssen glaubt und auch das, was man niemals steuern kann und so beunruhigt ihn latent immer die Frage: „Was kommt danach?“ Und je mehr Angst er hat, was kommt, desto mehr wühlt er hektisch in seiner Geschichte, baut für die angeblichen Belege Museen, wie Tempel und muss sich die darin ausgestellten Götzen ständig vor Augen halten. Eine interessante Korrelation.
Aber das ist das Grundthema des Menschen, das Leiden an der Vergänglichkeit. Deshalb gibt es Philosophie und Theologie, die letztendlich Erklärungsversuche sind. Die Philosophie forscht darüber, stellt Fragen, immer wieder im neuen Kontext der Geschichte, ergebnisoffen ohne letztgültige Lösung. Die Theologie hat die Antworten. Und Kultur thematisiert diese Antwort in kultureller Handlung. Sie thematisiert in diesem Schöpfungsakt immer das gleiche Thema, dass der Mensch merkt, Hoppla, ich bin ja etwas anderes als das Tier.
Die Idee in Lorsch war daher zu sagen: 1.) Das Thema des Ortes ist Zeit 2.) der Artefakt des Ortes ist die Partitur und 3.) Jemand, der dort als Interpret handelt, erweckt diese Partitur zu einer – nennen wir es einmal trivial – Geschichte. Zu etwas, das den Zuhörern einen Spiegel vorhält, in dem sie sich selber erkennen können.
Mit der Zehntscheune schaffen wir nur den Rahmen, stellen für den Interpreten, den „Zelebranten“ ein Instrument hin, als technische Möglichkeit. Der Rahmen, das Artefakt und der Zelebrant müssen zusammenwirken. In diesem Moment des Zusammenwirkens kommt es zu der entscheidenden Kulturerfahrung. Das ist die Idee und das ist auch der Grund, warum Lorsch noch nicht fertig ist.
Wir sind gerade damit fertig geworden mit der Zehntscheune das Instrument zu bauen. Wir haben einen Fußboden, auf dem man sich bewegen kann, und wir haben eine Decke, die sich für technische Dinge nutzen lässt. Ansonsten haben wir den Bau bis auf die scharfkantig hineingesetzten Durchgänge nicht angefasst. Von der Spinnwebe über die Schimmelspore bis zum Graffiti ist sonst alles so geblieben wie wir es beim ersten Besuch vorgefunden haben. Reziprok zu Erbach, wo wir das alles im schwarzen Umraum weggedrückt haben. In Lorsch dagegen lassen wir es völlig wertfrei zu, kaschieren nichts, interpretieren aber auch nicht oder belehren womöglich.
Daher gibt es in Lorsch auch kein Ausstellungskonzept. Es gibt in Lorsch ein paar Regale, da liegt die Partitur, also die Fundstücke drin. Im Moment dient dieser Rahmen dazu vor Ort ein ganz klassisches Ausstellungskonzept mit Führungen etc. zu veranstalten. Das hat aber überhaupt nichts mit unserer Konzeption zu tun und stammt auch nicht von uns.
Da wo man im kunstgeschichtlichen oder archäologischen Sinne keine Zuordnung treffen kann, darf man es auch nicht versuchen oder behaupten. Mich interessiert nicht, ob dieser Putzkrümel aus dem 18. Jahrhundert stammt oder aus den 1980er Jahren. Das ist uninteressant für das, was dieser Ort eigentlich verlangt, um erfahren werden zu können.
Die momentane Phase in Lorsch ist so, dass man es vielleicht als Museum bezeichnen könnte, aber irgendwie trägt dieser Begriff nicht mehr. Es ist auch kein Schaulager. Es ist ein Spielraum, letztlich gedacht wie ein Theater oder Konzertsaal, in denen es keine festgelegten Inszenierungen gibt. Um diesen Ort zum Klingen zu bringen bedarf es der Verschmelzung von Ort, Inhalt und Handlung, von Idee und Form, nur, dass wir keine Partitur haben, die mit künstlerischem Impetus als Vorlage erschaffen wurde, sondern Artefakte der Zeitlichkeit des Ortes, ohne jeweiligen Eigenwert, aber exemplarisch gültig für das Prinzip des Durchwirkens von Geschichte. Zufällige Fundstücke, die durch den Handelnden der Jetztzeit zum Leben erweckt werden müssen – und am Ende der Handlung vielleicht auch zum Sterben. Die Handlung ist daher das eigentliche Kernelement, an dem wir im Moment arbeiten. Lorsch ist daher kein Ort des Objektes sondern des Handelns. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ich mache keine Trennung zwischen Raum und Handwerk, zwischen Materie und Wort. Das ist für mich alles Architektur. Architektur ist, wenn der Raum wirkt, nicht wenn er da ist. Erst wenn der Raum im Sinne der Idee wirkt, die hinter ihm steht, entsteht für mich Architektur.
Jürgen Tietz: Das verbindet Lorsch mit Erbach.
Peter Sichau: Ja, genau. Die grundsätzliche konzeptionelle Herangehensweise ist gleich. Es kommt in einer anderen Gestalt daher, weil der Ort ein anderer ist.
Karl Weber: Ja, und weil ich für die Objekte in Lorsch einen Anstoß brauche. Sonst bleibt es ein Steinhaufen.
Peter Sichau: … es ist ja nichts da….
Es gibt ein Konzept von uns, bei dem der Handelnde, der Zelebrant, den echten Artefakt, d.h. das historische Fundstück am Ende der Handlung, seiner Interpretation – und das ist nicht die Erklärung, wie alt das Stück ist, wo es herkommt oder sonst etwas, sondern er spricht über die Zeit wie Augustinus – tatsächlich zerschlägt, zu Staub zerreibt vor den Augen der Zuschauer, weil der Artefakt in diesem Kontext eben keine Rolle spielt. Dieses Vorgehen ist sehr dicht an sakralen Opferhandlungen und ich halte das an diesem Ort für berechtigt, eben weil es ein sakraler Ort ist. Unser Prinzip der radikalen Reduktion bezieht sich hier nicht auf das Objekt oder die Architektur, sondern auf den Inhalt, die Handlung. Das Thema in Lorsch ist also Zeit und Vergänglichkeit und deren Spuren, die an diesem Ort noch auffindbar sind, aber als Materie, die als Materielles keine Rolle spielt und daher auch am Ende der Handlung zerstört werden kann, denn die Botschaft ist wichtiger als das Ding und damit das keine Behauptung bleibt und am Ende das Ding doch wieder als Götze im Regal liegt, muss man das Ding im Zuge der Handlung zerstören, in seine Urbestandteile, nämlich Sand und Staub zurückführen. Nur so gelingt es den Zuschauer und Mithandelnden in die gedachte Kult-Ur-Handlung einzubeziehen und aus seinem konditionierten Erwarten zu befreien.
Jürgen Tietz: Wenn man dieses Konzept der Einheit von Raum, Wirkung und Handlung nimmt, verbindet es beide Orte. Ansonsten ist bei Lorsch die Unsicherheit von vorneherein beim Betrachter vorhanden während sich bei Erbach die Sache genau umgedreht darstellt. Dort wird die Unsicherheit erst erzeugt.
Peter Sichau: Exakt.
Karl Weber: Ja.
Peter Sichau: In Erbach ist man sich sicher was jetzt kommt. Deutsches Elfenbeinmuseum. Super – das sehen wir uns an und fragt sich anschließend: Was war das denn?
Karl Weber: Und in Lorsch ist es das genaue Gegenteil…
Peter Sichau: … aber es meint das gleiche Prinzip nur umgekehrt.
In Lorsch ist das Thema eben komplexer und daher ist es meiner Meinung nach absolut legitim, szenische Mittel zu nutzen, also das Thema Zeit auch mit größerem Aufwand zu inszenieren, weil der dramaturgische Verlauf der Handlung hier entscheidend für die Kunsterfahrung ist.
Jürgen Tietz: Könnte man beides auf einen Nenner bringen? Ich vermeine den Dreiklang aus wahrnehmen, erleben und verwundern zu vernehmen.
Karl Weber: Nein.
Jürgen Tietz: Warum nicht?
(lange Pause, dann Gelächter)
Karl Weber: Wie war der Dreiklang?
Jürgen Tietz: Wahrnehmen, erleben und verwundern.
Karl Weber: Auf gar keinen Fall ‚erleben’. Was ist es, wenn ich in einen Tempel, in eine Kirche gehe? Wo nichts passiert. Ist es Erleben? Nein. Außer ich gehe als Tourist dahin…
Peter Sichau: Es hat etwas mit Kontemplation zu tun, wenn man sich darauf einlässt….
Karl Weber: …. und es hat beides ganz viel damit zu tun, dass mir nichts hilft. Ich muss es selber machen….
Peter Sichau: Die Konfrontation jedes Einzelnen mit dem Existenziellen, das ist kein Erleben sondern eine Konfrontation mit sich selber. Wie stark das stattfindet – und das ist der entscheidende Unterschied gegenüber Erbach, das eine statische Anlage ist — wie sehr das in Lorsch ankommt, ist entscheidend abhängig vom Zelebranten, vom Medium, im Moment der Handlung.
Karl Weber: Medium im eigentlichen Sinne. Was ist der Priester anderes als das Medium, das mich in das Andere hinführt?
Peter Sichau: Der Schamane.
Jürgen Tietz: Entschuldigung, aber das ist doch ein Moment des Erlebens…
Es ist ein ganz physischer Moment.
Karl Weber (seufzt tief): Sie spüren es… Vielleicht meinen wir das Gleiche, aber ich habe mit dem Wort ‚erleben’ wahnsinnige Schwierigkeiten.
Peter Sichau: Es ist eine andere Qualität. Ein Erlebnis ist nett…
Karl Weber: … vor allem ist es ein total vernutztes Wort… Alles ist ein Erlebnis.
Ja, im ursprünglichen Wortsinn gehe ich mit.
Ich Er-Lebe etwas.
Jürgen Tietz: Es ist, um es mit einem Begriff des kanadischen Philosophen Charles Taylor auszudrücken „ein Moment der Fülle“…
Es ist nicht nur ein einfaches bestäubendes berieseln. Es ist eine Erfahrung, ein Erlebnis, das nur durch den Kontakt von mir mit dem Ort und dem was dort sattfindet entstehen kann und das eine Durchdringung schafft.
Peter Sichau: Genau das ist es, eine Erfahrung.
Es gibt eine Todeserfahrung aber kein Todeserlebnis.
Es gibt Grenzerfahrungen aber keine Grenzerlebnisse.
Karl Weber: Ist ein Schmerz ein Erlebnis?
Jürgen Tietz: Ich erlebe den Schmerz…
Peter Sichau: … ja gut, das ist der technische Vorgang.
Karl Weber: Wenn es der Beschrieb des technischen Vorganges ist, dann akzeptiere ich den Begriff Erlebnis. Wir leben in der Zeit und die Zeit hat die Begriffe Erleben und Erlebnis entwertet.
Peter Sichau: Bei diesen Wörtern wird es deutlich. Es gibt kein Gotteserlebnis, nur eine Gotteserfahrung. Das sind die entscheidenden kleinen Unterschiede, die aber ganz wesentlich sind.
Jürgen Tietz: Das Entscheidende ist doch, dass ich diesem Moment erlebt habe…
Peter Sichau: Das ist der Zeitstrahl, aber nicht das, was in einem gewirkt hat. Das eine ist der Vorgang, der von A nach B geht und das andere ist das, was in mir wirkt. Dieses Erlebnis hat diese Erfahrung ausgelöst. Das zeichnet die wirklichen kulturellen Erfahrungen aus, dass man aus der Welt des Physischen in den Grenzbereich gelangt.
Karl Weber: Immer eine gemeinsame sprachliche Verständigungsebene vorausgesetzt, funktioniert Lorsch für jeden Kulturkreis. Aus einer bildüberfluteten Welt bringe ich den Menschen in eine fast komplette Leere. Dann fängt es an etwas mit dem Menschen zu machen. Ich helfe ihm dabei. Es erfordert von ihm nur, dass er sich öffnet. Wenn er sich darauf einlässt, regt es in ihm etwas an. Und in jedem etwas Anderes. Es ist nicht stereotyp! Das ist das eigentlich Spannende!
Peter Sichau, 2017