Antonius-Leitbild und das Projekt der Gartenhäuser
Das St. Antoniusheim wurde 1903 von Maria Rang gemeinsam mit zahlreichen Fuldaer Bürgerinnen und Bürgern als selbständige Stiftung gegründet. Sie wollte einen Ort schaffen, der Menschen, die eine Behinderung haben, Ausbildungsmöglichkeiten bot und damit einen Weg in die gesellschaftliche Integration. Sie war mit dieser Ansicht ihrer Zeit weit voraus und eine Visionärin im Bereich des Umgangs mit Behinderung und Menschen mit Handicap. Mit viel Engagement und Beharrlichkeit konnte Sie 20.000 Goldmark Grundkapital aufbringen und damit ihr Projekt umsetzen. Ihr Motto „Jeder hat Talente und kann etwas“ prägt auch heute noch das St. Antoniusheim und die Aktivitäten der Stiftung, die sich ganz in der Tradition von Maria Rang dem Ziel verschrieben hat, eine unabhängige und stabile Grundlage für die Förderung von Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
All das, was die besondere Attraktivität des Antoniusheimes ausmacht ist irrational, besteht in der Wahrnehmung der Bevölkerung nur intuitiv und wäre gemessen an heutigen „Anforderungen“ an ein Unternehmen, das modern, fortschrittlich und erfolgreich sein möchte schwerstens antiquiert: Christentum, Humanismus, Lebensgemeinschaft, Geborgenheit, Bewahrung des Schöpfungsgedankens, Selbstversorgung, Miteinander in allen Phasen des Lebens von der Geburt bis zum Tod. Das Antoniusheim vermittelt durch diese christlich-traditionelle Haltung exakt das Gegenmodell der modernen, globalen, perfekten, leistungsorientierten Allesistmachbarunddasüberallsofortgesellschaft. Die undefinierbare kollektive Aversion gegen diese moderne Daseinsform und ihre schleichend in jeden Lebensbereich Einzug haltenden (Aus)Wirkungen ist kein individuelles Unbehagen Einzelner, sondern Ergebnis einer gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, die das Bedürfnis für diese überlebenswichtigen immateriellen Grundfaktoren des menschlichen Zusammenlebens mit immer kurzlebigeren Konsumangeboten zu entwerten sucht.
Im Gegensatz hierzu liegt das vornehme Alleinstellungsmerkmal des Antoniusheimes: im wahrhaftigen und integren Festhalten an den Grundwerten menschlicher Gemeinschaft: Nächstenliebe, Respekt vor der Schöpfung, Verantwortung vor der Natur, Gestaltung eines eigenbestimmten Lebensumfeldes, Angebot der Teilhabe für jedermann ohne Vorbedingung, Lebensgestaltung von der Geburt bis zum Tod. Und dies alles in einem entscheidenden Rahmen: GEMEINSCHAFT. Hier wird, angesichts der demographischen Entwicklung und konsumorientierten Übersättigung für den Menschen, der im Sinne heutiger gesellschaftlicher Anforderungen überleben muß, am ehesten deutlich, wie hoch der Preis des vermeintlichen Fortschritts ist. Und darin liegt der besondere Vorzug des Angebotes des Antoniusheims.
Nicht das reale Abbild der Gemeinschaft, sondern die Vorstellung davon sprechen das empfundene Defizit des Außenstehenden an, nämlich, daß es jenseits der Istwelt doch noch das Idealmodell menschlicher Existenz geben könnte. Hier liegt das große Potential und auch die hohe Verantwortung weiteren Handelns. Die Bewahrung dieses ideellen Lebensmodells durch den festen Glauben daran, die Formulierung klarer Leitlinien, die unermüdliche Kontrolle und die Verbesserung und Durchsetzung der einmal definierten Standards bis ins kleinste Detail kann ein glaubhaftes Gegenmodell zu zeitgenössischen Tendenzen der globalen Mediengesellschaft entstehen lassen.
Das St. Antoniusheim steht seit seiner Gründung vor über einhundert Jahren für ein christliches Welt- und Lebensmodell, das bis heute als Gegenpol zu einer globalisierten, leistungsorientierten Konkurrenzgesellschaft angesehen werden kann. Dabei ist die Einrichtung in Ihrem Handeln den grundlegenden werten christlicher Ethik stets verpflichtet geblieben. Diese Haltung äußert sich ebenfalls in den vielen sozialen Projekten der letzten Jahre, die unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Zeitströmungen immer nur den Menschen ohne Vorbedingung an sein Alter, Geschlecht, körperlich, geistig oder seelische Verfasstheit begreift. Gerade deshalb ist auch das Projekt der Gartenhäuser nicht auch eine „Zielgruppe“ hin konzipiert, sondern darauf, allen Menschen ein Angebot zu machen – sofern diese nur bereit dazu sind. So entsteht wahre Gemeinschaft, ein Zusammenleben unterschiedlichster Personen, die über die gleiche Haltung, das gleiche Bewusstsein für den Anderen, die Sehnsucht nach einem sinnvollen Lebensmodell vereint. Dabei ist der besondere Ansatz einer Privatheit in der Gemeinschaft von Jung und Alt bis ans Lebensende, mit allen Möglichkeiten der Unterstützung im Alter oder bei Einschränkungen, der Versorgung mit biologischen Lebensmitteln, einer aktiven Nachbarschaft inmitten eines gewachsenen Stadtquartiers Grundlage und Leitfaden bei der Entwicklung des Gartenhausprojektes. Die soziale Komponente dieses Phänomens macht die Frage nach besonderen Nutzergruppen überflüssig. Nicht die Einteilung in Äußerlichkeiten, sondern die immateriellen Werte bestimmen in diesem Kontext die Auswahl derjenigen, die hier zueinander finden. Diese Situation in bauliche Realitäten zu bringen, bleibt auf dieser Grundlage nur noch handwerkliche Aufgabe.
Peter Sichau – 2018