Spur und Aura – die Vermittlung des Nicht-Sichtbaren
Welterbe Kloster Lorsch – Zehntscheune
„Aura ist die Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft – Spur ist die Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“ (Walter Benjamin)
Klassische mediale Informationswerkzeuge der Museumspädagogik wie Text, Film oder Internet etc. bergen per se die Gefahr die Wahrnehmbarkeit des auratischen Potentials eines Ortes zu beeinträchtigen. Dieses Phänomen gilt ganz besonders in Lorsch, denn gerade an diesem Ort, an dem heute nur noch Fragmente der Klostergeschichte zu sehen sind geht es exemplarisch um die Vermittlung des Nicht-Sichtbaren, der Aura, die im Wesentlichen auch durch die Nichterklärbarkeit des Sichtbaren bedingt ist.
Im Rahmen der derzeit laufenden konzeptionellen Neuordnung und Ausrichtung des Klosters Lorsch soll die auf dem Klosterareal befindliche Zehntscheune die bislang im Kirchenrest bzw. heute im Kurfürstlichen Haus befindlichen Objekte des Lapidariums aufnehmen und dem Besucher vermitteln. Dabei ist die Zehntscheune Teil eines museologischen und museumspädagogischen Gesamtkonzeptes, dass die unterschiedlichen Themen und Sammlungsbestände sowie die geschichtlichen und räumlichen Zusammenhänge der Klostergeschichte an mehreren, räumlich voneinander getrennten Orten vermitteln soll:
- Kloster Altenmünster auf dem vermuteten Gelände der Ursprungsgründung des Klosters, östlich außerhalb von Lorsch gelegen
- „Lauresham“, das 1:1 Modell eines frühmittelalterlichen Frohnhofes als Anschauungs- und Erlebnisort für Besucher und Touristen, östlich des Klosterareals gelegen, zwischen Lorsch und Altenmünster
- Das Museumszentrum Lorsch an der Nibelungenstraße, dass heute bereits zum Teil die verfügbaren Sammlungsbestände zum Kloster präsentiert
- Das Klostergelände selbst mit Umfassungsmauer, Torhalle, Kirchenrest, Zehntscheune, Kurfürstlichem Haus, Adalherhaus und Revierförsterei
- Die Zehntscheune als Lager und Werkstatt für die geborgenen Architekturfragmenten, Spolien, Objekte der Sepulkralkultur, Ausstattungsfragmente etc.
Kloster Lorsch ist vor allem durch die Torhalle ein „Publikumsmagnet“ für unterschiedlichste Personengruppen: Touristen, Reisegruppen, Kindergarten- und Schulklassen, Kunstinteressierte, Bewohner der Stadt und Region, aber auch Schüler, Studenten und Wissenschaftler kommen nach Lorsch. Demzufolge vielschichtig sind Vorkenntnisse und Erwartungshaltung der Besucher. Ausgehend von dem Gedanken einer großmaßstäblich räumlichen Vermittlung der Klostergeschichte wird sich für den Besucher zukünftig eine Vielzahl von Möglichkeiten ergeben, den Ort zu erkunden.
Heute zeigt sich der Klosterkomplex nach fast 400 Jahren der Profanisierung dem Betrachter nur noch in wenigen baulichen Überresten, die zudem in ihrer heutigen Hierarchie der hervorragend erhaltenen Torhalle zum Kirchenrest und den Profanbauten des Barock bis zur Neuzeit, keine Lesbarkeit des ursprünglichen Areals mehr zulassen. Einzig die Reste der Klostermauer geben noch eine Ahnung der einstigen Dimension der Klosteranlage.
Ohne Vorkenntnisse oder didaktische Begleitung war der Besucher daher bislang auf Vermutungen, Spekulationen oder Interpretationen der überkommenen, unübersichtlichen Situation angewiesen. Dies wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass durch verschiedene Überformungen und neuzeitliche „Zutaten“ räumliche Zusammenhänge zerstört oder historische Vermutungen verunklärt werden. Im einfachsten Fall führte dies zu Verwirrung und Fehleinschätzungen, darüber hinaus aber auch zu Überforderung, Langeweile und Desinteresse.
Doch wie sollte auch die Vermittlung dieses bedeutenden Ortes der abendländischen Kulturgeschichte in seiner enormen Komplexität und Vielfalt gelingen, angesichts der Jahrhunderte mit Zerstörung, Überformung, Missdeutung und Fragmentarisierung? Selbst Forscher dürften Generationen benötigen, um die Unzahl der bekannten und noch verborgenen Puzzleteile der monastischen Epoche zu erklären und zu werten.
Demgegenüber besteht jedoch die Verpflichtung aus der einmaligen Bedeutung des Ortes zu einer Erklärung seiner Entstehung und seines Wirkens auf die damalige Welt und unserer heutigen Existenz. An einem Ort der „vermittelndes Glied zwischen Antike und Mittelalter“ (Schefers) war, muss im Ergebnis die Vermittlung des Gehaltes des Ortes vor der Beschreibung der Gestalt seiner Einzelteile stehen. Scheitern müssen demnach per se alle Versuche Sammlungsstücke allein zum Gegenstand der didaktischen Vermittlung der Klostergeschichte und -bedeutung zu machen. Sie bleiben, jedes für sich, Objekte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, d.h. der Beschreibung und theoretischen Betrachtung im Einzelnen. Gleichwohl ist das (klassisch museale) Interesse der Besucher an solchen Fundstücken legitim und bedarf der Befriedigung.
Bislang existierten Angebote hierfür lediglich innerhalb des 1995 eingerichteten Museumszentrums sowie in Form verschiedener museumspädagogischer Angebote auf dem Klostergelände selbst. Eine zusammenhängende Konzeption zur Vermittlung der komplexen räumlichen, historischen, architektonischen und vor allem heute nicht mehr sichtbaren archäologischen Zusammenhänge war bis dato nicht gegeben.
Das im Zuge der Planungen zur Zehntscheune entwickelte neue museumsdidaktische Konzept zur Vermittlung der meist rudimentären Zeugnisse der Klostergeschichte, nutzt in Lorsch die einmalige Gelegenheit, die komplexen und spannenden, in jedem Falle aber weitgehend ungeklärten und wenig gesicherten Annahmen zur Bau- und Kulturgeschichte des Klosters, in einer neuen, bisher nicht in dieser Form praktizierten Methodik des Zusammenspiels unterschiedlicher Vermittlungsebenen anzubieten.
Perzeption und Rezeption
Die enorme Vielfalt und Verquickung der Wissens- und Erfahrungsaspekte zur Klostergeschichte stellt per se zuerst die Frage nach der prioritären Vermittlungsabsicht.
Zweifellos wird man in einem Technikmuseum den Schwerpunkt auf die Erklärung der technischen Besonderheiten des Ausstellungs-Objektes und seines Kontextes im Entstehungszusammenhang legen. In diesem Fall hat das Objekt selbst bereits einen hohen Anteil selbstreferentieller Faktoren, es funktioniert und erklärt sich quasi aus sich selbst heraus und kann in seinen Einzelteilen demzufolge zu sich selbst befragt werden.
Anders dagegen im Falle der nur fragmentarischen Existenz solch objekthafter Informationsträger. In diesem Fall ist per se ein höheres Maß an „Erklärung“ seitens des Vermittelnden und im Gegenzug der Imaginierung seitens des Betrachters erforderlich. Im Falle des gänzlichen Fehlens eines Objektes führt dies sogar zur absoluten Bedeutung der „Erklärung“, was beim Betrachter oder Zuhörer die vollständige Imaginierung des Erklärungsgegenstandes erfordert.
Dieses Phänomen ist in erster Linie aus der Rezeptionsästhetik der Literaturwissenschaft bekannt, da in der Literatur bekanntermaßen kein haptisches Objekt als Anschauungshilfe vorliegt. Das was vermittelt werden soll, ergibt sich erst durch die Verschmelzung der als solches sinnfreien Wörter mit dem Erwartungs-, Verständnis- und Bildungshorizont des Rezipienten. Daher wird Rezeption vor allem durch ihren diskursiver Charakter im Vorgang der Kommunikation bestimmt, da sie in erster Linie kognitiv intellektuell das Aufgenommene relativiert und einordnet.
Dem gegenüber steht das Phänomen der Perzeption, bei der unbewusste Prozesse individueller Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung im Bewusstsein des Informationsempfängers Vorstellungsbilder von wahrgenommenen Teilaspekten der Wirklichkeit entstehen lassen. Dieser Vorgang ist weitestgehend intuitiv bestimmt und in hohem Maße von der Situation, Atmosphäre und Art und Weise abhängig, wie die Informationsvermittlung erfolgt.
Wie verhält es sich nun bei den Erklärungsinhalten um die Geschichte von Kloster Lorsch, vorausgesetzt, dass eben die Bedeutung, die Geschichte, die Wirkung (also die Aura) des Klosters der wesentliche Vermittlungsgegenstand ist und nicht die überkommenen, bruchstückhaft vorliegenden Objekte (also Spuren)? Sicherlich so, dass die Vermittlung dieser Inhalte nur perzeptiv erfolgen kann.
Im Gegensatz zu vielen anderen museal aufbereiteten Kulturstätten hat Kloster Lorsch den besonderen Vorteil, eine räumliche Entflechtung der vorg. Ebenen vornehmen zu können. Dabei ermöglichen diese verschiedenen Orte, ihrem historischen und räumlichen Kontext entsprechend, unterschiedliche Ebenen der Vermittlung:
Ebene I – konsumtiv
Lauresham – ein experimentalarchäologisches Freilichtlabor – bietet bewusst die Rekonstruktion eines karolingischen Herrenhofes als realistischem Abbild der vermuteten historischen Situation. Hier soll im Sinne des Wortes Geschichte begreifbar werden.
Ebene II – intellektuell
Das Museumszentrum neben dem Klostergelände vermittelt in klassisch musealer Tradition dinglich begründete sowie geistes- und kulturgeschichtliche Inhalte.
Ebene III – intuitiv
Die Zehntscheune, als Ort auf dem Klostergelände, komplettiert diese Vermittlungskette als Ort, an dem nicht die Erklärung von Artefakten im Mittelpunkt steht, sondern die Vermittlung von Geschichte als auratischem Erlebnis.
In der Abfolge dieser Orte entsteht so ein didaktisch strukturiertes Angebot, dass sowohl in seinen Einzelbausteinen, als auch in der Kombination seine Wirkung entfaltet. So werden unterschiedlichste Zielgruppen und Erwartungshaltungen befriedigt, ohne dass eine Vermischung der verschiedenen
Qualitäten erfolgt.
Dabei findet eine „Kontaminierung“ des Klostergeländes mit profanen Nutzungen oder konventionellen musealen Angeboten bewusst nicht statt, wodurch man hier die authentische Situation als auratischen Ort erleben kann. Auf dem Klosterareal selbst geht es daher nicht um Antworten (die es ja nicht gibt), sondern um Fragen.
Die Imaginisierung der Dinge
Die Zehnscheune thematisiert in diesem Zusammenhang die Ambivalenz zwischen archäologischen Zeitzeugnissen und deren Nichterklärbarkeit.
Sie ist Geschichtsmagazin, Werkstatt, Fundus und Veranstaltungsort – für Besucher nur erlebbar im Rahmen von Veranstaltungen. Hier dient das Überkommene im Fragment der Lorscher Klostergeschichte als Interpretationsgegenstand einer von vielen Deutungsmöglichkeiten des Ortes.
Präsentation und Vermittlung der Bedeutung der Objekte erfolgt dabei im Rahmen eigens hierfür inszenierter, thematisch begrenzter Veranstaltungen durch einen besonders geschulten „Erklärenden“. Ziel dieser Veranstaltungen ist dabei die „Erklärung“ der Objekte, die, in Folge ihrer fragmentarischen Selbstauskunft, durch den Erklärenden erst „zum Leben erweckt“, d.h. imaginisiert werden.
Der Vorgang dieser Vermittlung setzt eine didaktische Strategie voraus, die, je nach Objekt und Vermittlungsziel, bewusst eine bestimmte Bandbreite für interpretatorische Gestaltung des Erklärenden zulässt. Im Gegensatz zur Interpretation eines Musik- oder Theaterstückes handelt es sich in der Zehntscheune nicht um ein künstlerisches Werk als Vorlage, sondern um einen bedeutungsbeladenen Artefakt, der gleich einem monadischen Element, als beliebiges kleinstes Teilchen für den Kosmos der Klostergeschichte als Ganzem steht.
Insofern bleibt das Ding, der Gegenstand der Vermittlung als Ausgangspunkt zwar immer der Gleiche, der Akt der Vermittlung ist jedoch ein wiederkehrender, nie gleicher Vorgang, der durch den geschichtlichen Gegenstand mittels des Wissens und der Darstellungskraft des Erklärenden als vergängliche Darbietung im Gedächtnis des Publikums bleiben kann. In Analogie zur darstellenden Kunst kann so die Vermittlung eines immateriellen Geschichts- und Bedeutungsraumes um ein überkommenes Artefakt, mittels einer bewussten Inszenierung, auch ein künstlerischer Akt der Interpretation sein.
Die Vermittlung geschieht dabei nicht in Form einer „Theaterführung“, sondern als eine Art der Kommunikation, bei der die künstlerische Erfahrung des Vermittlungsaktes für das Publikum im Vordergrund steht.
In der Zehntscheune geht es somit zuerst um Wissenserfahrung und nicht um bloße Wissensvermittlung. Das archaische Bedürfnis des Menschen nach diesem Erlebnis ist der Schlüssel zum intuitiven Begreifen der eigentlichen Bedeutung des Klosters.
Peter Sichau 2014
Beitrag der Monatszeitschrift SEHENSWERTE der Staatlichen Verawaltung der Schlösser und Gärten in Hessen (VSG)