Die Vision ist der Anfang von allem

Peter Sichau über den Wildwuchs heutiger Stadtentwicklung.

Das Gespräch führten Hanno Henkel und Arnulf Müller

SeitenWechsel: Herr Sichau, wie hängen Architektur und Nachbarschaft zusammen?

PS: Gar nicht. Nachbarschaft, also eine bestimmte Form von Nähe, die ein Gefühl von Gemeinschaft und zwischenmenschlicher Geborgenheit vermittelt, bildet sich erst auf der Grundlage struktureller Gegebenheiten des Zusammenlebens. Dabei ist natürlich die Form, wie man wohnt, ein wichtiger Faktor, aber mehr hinsichtlich des Maßstabes, der in einer (Bau)Struktur verwirklicht ist, als im Sinne einer Architekturform oder -sprache. Es kommt auf die Qualität der Struktur an. Nachbarschaft entsteht unter diesen Bedingungen in einem Slum genauso gut wie in einem Villenvorort.

  

SW: Was unterscheidet den Stadtplaner vom Architekten?

PS: Stadtplaner denken in strukturellen Kategorien. Der Maßstab ist ein anderer als in der Architektur, die sich vor allem mit konkreten Gestaltungsaufgaben beschäftigt. Einem Stadtplaner geht es darum, ideale Lebensräume für Menschen zu entwickeln, die langfristig ein sozialverträgliches Zusammenleben ermöglichen. Ein gutes Konzept organisiert die primären Lebensbedürfnisse z.B. nach Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung, Kultur, in einem räumlich überschaubaren Kontext. Verwirklichen können solche Konzepte nur die politisch Handelnden, weshalb die Instrumente hierfür vom Gesetzgeber bewusst vor allem den Kommunen an die Hand gegeben wurden. Die Realität jedoch sieht bekanntermaßen trübselig aus: Monokulturen von Einfamilienhauswüsten, Gewerbekraken entlang jeder Autobahnausfahrt, hemmungsloser Landverbrauch für krebsartig wuchernde Straßennetze. Alles in allem eine ständig zunehmende, ethisch völlig unvertretbare Zerstörung unserer Lebensumwelt und Vernichtung von Ressourcen, weil man meist nur kurzfristigen Interessen(gruppen) folgt.

  

SW: Also muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen.

PS: Genau. Ebenso wie in der Bildungs- der Gesundheitspolitik muss auch die Stadtentwicklung vor den Übergriffen renditeorientierter Einzelinteressen geschützt werden. Dafür braucht es verantwortungsbewusste Politiker, denn sie fällen letztlich die Entscheidung, wo, was und wie gebaut wird – oder auch nicht. Sie tragen die direkte Verantwortung dafür, dass an die entscheidenden Positionen der Verwaltung Fachleute mit maximaler Qualifikation und Verantwortungsbewusstsein berufen werden. Der einzelne Bürger kann an den komplexen Abläufen der Verfahren gar nichts machen – höchstens die Konsequenzen ausbaden. Dass die Forderung nach einem sozialen und nachhaltigen Städtebau nicht nur Theorie ist, belegen die Vor- und Nachkriegsjahre in Deutschland und Europa eindrücklich. Entstehen konnten diese gelungenen Programme aber immer nur mit entsprechender politischer Rückendeckung, also in einem Prozess, der von oben nach unten vorgegeben war. Städtebau ist ein zentrales Element sozialer Ordnung. Wer diese öffentliche Aufgabe vernachlässigt, riskiert nicht nur sozialen Unfrieden, er hat ihn dann auch zu verantworten.

  

SW: Was begünstigt aus der Sicht des Stadtplaners Nachbarschaft?

PS: Nachbarschaft im Sinne von sozialer Geborgenheit hat etwas mit Maßstäblichkeit zu tun: Der Lebensraum des täglichen Bedarfs muss überschaubar sein. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Maßstab bedeutet die Erfassungsdimension, in der man soziale Kontakte knüpfen kann, in der man sich sicher fühlt, wo es ein Versorgungsangebot und eben auch eine soziale Vielschichtigkeit gibt. Die Aufgabe von Stadtplanung ist es heute, die vielen stressigen Funktionsanforderungen an das Individuum so zu organisieren, dass sich der Stress abbaut und sich ein gemeinschaftliches Zusammenleben einstellen kann. Das hat viel mit Mobilitätsproblemen zu tun, weil meistens Arbeit, Wohnen, KITA, Schule, Versorger etc. räumlich auseinander liegen. Doch anstatt dieses Lebensumfeld möglichst kompakt in den Quartieren zu organisieren, setzt man heute immer noch auf Trennung: hier Wohnen, da Arbeiten, da Kultur, da Schule oder Uni, dort das Gewerbegebiet. Das führt zu einem kollektiven Mobilitätszwang – eine ganze Gesellschaft in ständiger Bewegung! Irrwitzige Kosten durch Investitionen in Straßen, Instandhaltung, Fahrzeuge und unnütze Zeitverschwendung. Von den Schäden für die Umwelt und den schlechten Lebensbedingungen ganz zu schweigen.

 

 SW: Wie sollten Stadtteile gestaltet sein?

PS: Die Aufgabe ist eigentlich recht archaisch: Leben in einem menschengerechten Maßstab und in einer überschaubaren Dichte, eben das, was man heute als Kiez bezeichnen würde: Ein Ort, an dem man lebt und arbeitet, mit kurzen Wegen zu den Punkten, an denen sich der Alltag abspielt. So entstehen Kontakte zu Nachbarn und Arbeitskollegen, die sich ebenfalls da aufhalten. Man kann alle Lebensabschnitte dort verbringen und findet die nötige Infrastruktur vor. Das ist möglich. In der Geschichte der letzten 150 Jahre gibt es genügend positive Vorbilder.

  

SW: Brauchen wir wieder mehr sozialen Wohnungsbau?

PS: Wieso – gibt es einen? Da müsste man zuerst mal den Begriff „sozial“ definieren. So, wie die soziale Wohnraumförderung derzeit in homöopathischen Dosen realisiert wird, entfaltet sie keine Wirkung. Und wenn, dann führt sie durch die damit verbundenen Auflagen eher zur Ghettobildung eines vorbestimmten Klientels. Dadurch entsteht eine gesellschaftliche Klassenbildung, die man mit planerischen Mitteln nicht auflösen kann. Für mich stellt sich beim Thema Sozialer Wohnungsbau daher eine Grundsatzfrage: Bedeutet „sozial“ eine staatliche Alimentierung des Investors, damit es gering Verdienenden ermöglicht wird, ein normales Leben zu führen? Oder bedeutet „sozial“ nicht eher einen Solidarakt in dem Sinne, dass diejenigen, die in der Lage sind, ohne Probleme etwas abzugeben, dazu bereit sind und mit ihrem Beitrag den wirtschaftlich schwächeren Mitmenschen helfen? Mit antonius haben wir in Fulda das Projekt eines sozialen Wohnungsbaus erdacht, welches diesen Namen verdient. Nicht staatliche Zuschussprogramme aus politischem Kalkül, sondern eine solidarische Haltung derjenigen, die mehr haben, führt zu unterschiedlichen Mieten im gleichen Haus. Dadurch können auch Menschen mit wenig Einkommen an der Gemeinschaft teilhaben. Dass eine solche einkommensabhängige Beteiligung am Gemeinwohl keine Sozialromantik, sondern machbar ist, zeigt zum einen unser Steuersystem, das als ein gestaffeltes Beitragssystem ja auch von allen anerkannt wird; zum anderen auch die Tatsache, dass dieses Projekt der Gartenvillen von antonius tatsächlich funktioniert. Natürlich muss man bei so etwas als Investor auf die Maximalrendite verzichten. Und da kommt wieder die Frage ins Spiel, ob es eine Gesellschaft tolerieren kann, dass jemand mit einem Grundrecht über ein zulässiges Maß hinaus Geschäfte macht. Daher geht es bei unserem Modell darum, dass alle Beteiligten – also auch die Investoren – etwas von solchen Programmen haben. ETWAS – nicht ALLES!

  

SW: Wie können Kommunen eingreifen?

PS: In Deutschland gilt das Prinzip der kommunalen Planungshoheit. Jede Kommune kann über Flächennutzungs- oder Bebauungspläne festlegen, was, wo, wie gebaut wird. Das hat direkten Einfluss auf den Grundstückspreis. Und genau über diese Hebelwirkung kann man, vorausgesetzt sie wird intelligent eingesetzt, Investorenströme lenken und den Bedarf an Wohnraum, Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen sicherstellen.

  

SW: Hat eine Kommune unter dem Druck der Häuslebauer überhaupt Spielräume?

PS: Sehen Sie, das ist ja gerade das Problem: der angebliche „Druck der Häuslebauer“, also des Wählers. Der Einzelne will natürlich immer das Maximum für sich selbst. Das kann aber nicht der Maßstab einer sozialen Stadtentwicklung sein, die letztlich allen zugute kommen muss. Deshalb ist es entscheidend, objektiv und vorausschauend zu handeln und dabei dem „Druck“ nicht nachzugeben. Es geht nicht darum, das zu befriedigen, was jeder Einzelne gerne hätte, sondern mit den Instrumenten der Stadtentwicklung zum Wohle der Gemeinschaft für die nächsten 60-80 Jahre Strukturen zu schaffen, in denen kontrollierte Entwicklungen stattfinden können.

 

 SW: Und da sind ja noch die Investoren …

PS: In Deutschland ist das Immobiliengeschäft im Wohnungsbau extrem stark von Investoren beeinflusst. Ein Investor realisiert naturgemäß nur, was am meisten Geld bringt – das ist legitim. Ohne ihn geht es auch nicht, irgendjemand muss die Häuser ja bauen, das ist nicht die Aufgabe einer Kommune. Aber was er bauen darf, d.h. wie viel und wie, das können die Gemeinschaft und ihre politischen Vertreter bestimmen. Es geht also nicht um ein Gegeneinander mit ideologisierten Positionen, sondern um ein Miteinander, um den Ausgleich der Interessen zum Wohl der Bürger.

  

SW: Wie kann man dem, der sich sein Schlösschen auf die grüne Wiese stellen will, begreiflich machen, dass er als Mensch eher vom anderen Modell profitieren würde?

PS: Sein Wunsch kommt ja nur daher, dass in unserer Gesellschaft als das Erstrebenswerte vor allem ein Bild tradiert wird: die maximale Freiheit und der Vorteil für den Einzelnen. Der Checker ist doch heute das Vorbild, nicht derjenige der sich uneigennützig für die Gemeinschaft einsetzt und dafür seine eigenen Interessen zurückstellt. Bei uns sind die Erfolgstypen die coolen Jungs. Das gehört geächtet. Das muss man gesellschaftlich komplett umwerten. Und wenn es keine Einfamilienhaus-Neubaugebiete mehr gibt, dann ist das gegenüber denen, die immer neues Bauland fordern, gut begründbar. Man sagt:  „Gibt es nicht, aber ich habe hier wunderbare Stadtquartiere, perfekt mit Straßenbahn vor der Tür, Parkanlage daneben, Kneipe gegenüber, Schule zu Fuß erreichbar und Schwimmbad um die Ecke.“

  

SW: Wenn das so einfach ist, warum wird es immer wieder falsch gemacht?

PS; Der Fisch stinkt vom Kopf! Wenn vom „Kopf“ her kein politischer Anspruch besteht, die existentiellen Aufgaben für die Gesellschaft ernsthaft anzugehen, wenn kein Bewusstsein da ist, dass man für solch langfristige Planungen nur die Besten engagieren kann, wenn kein Mut besteht, sich dem politischen Gegenwind auszusetzen, wenn keine Bereitschaft da ist, Überzeugungsarbeit in den Gremien und in der Öffentlichkeit zu leisten, und wenn die, die diesen Mut tatsächlich aufbringen, für ihre Haltung Prügel einstecken müssen, dann kann man fachlich noch so viel wollen oder beklagen, da hat man keine Chance. Was bleibt, ist höchstens ein bisschen Architektur-Deko, wenn überhaupt. An den falschen Strukturen ändert das nichts. Es ist oft erschreckend, wie auf politischer Ebene über Dinge befunden wird, von denen die Entscheider meist wenig bis gar keine Ahnung haben. Man glaubt, wenn man nur genügend Fachbehörden und Bürgermeinungen anhört und daraus einen schönen Kompromiss zusammen mixt, dann sei das auch die beste Lösung. Weit gefehlt, denn die Vision, die Idee ist der Anfang von allem. Alle weiteren Beteiligten und Prozesse, die nötig sind, damit die Vision Wirklichkeit wird, kommen erst danach. Dass die Idee bei den heutigen hyperkomplexen Abläufen nicht unter die Räder kommt, dafür muss derjenige sorgen, der die politische Kompetenz und Verantwortung hat. Er muss vor allem den Planer machen lassen, ihn dabei kritisch begleiten, die richtigen Fragen stellen und offen dafür sein, dazu zu lernen. Nur so entwickelt sich mit der Zeit ein Gefühl dafür, was man keinesfalls tun darf.

  

SW: Welche Lösungsansätze wären die richtigen?

PS: Nutzung des Bestandes, intelligente Verdichtung der innerstädtischen Strukturen, Aktivierung von Flächenressourcen, aktive Boden- und Bodenpreispolitik und vor allem menschen-, nicht autogerechte Innenstädte. Für den Bereich Wohnen heißt das konkret: Geschosswohnungsbau. Nicht Bauten mit acht Geschossen und mehr, sondern 4 plus 1, was sehr angenehm bewohnbar ist. Unterschiedliche Wohnungsangebote für alle Menschen, alt, jung, behindert, Singles, Familien. Das geht, wenn der Bebauungsplan keine Monokulturen ausweist, die Bodenpreise aktiv kontrolliert und den Investoren und Bauherren faire Modelle angeboten werden. Und wenn die Wohnqualität und Attraktivität dieser Quartiere so hoch ist, dass sich die Reichen sagen: „Da gibt es fünf sehr teure Wohnungen, egal, kann ich mir leisten“ – wohl wissend, dass sie damit andere Leute oder kulturelle Einrichtungen wie Kino, Theater oder Grünflächen fördern –, dann funktioniert auch das Miteinander.

  

SW: Wird Geschosswohnungsbau nicht als zu eng empfunden?

PS: Die Dichte ist nicht das Problem. Es muss nur so gebaut sein, dass die Maßstäblichkeit stimmt, das es genügend Läden, Cafés, Schule, Kita, Freiraum und öffentliche Grünflächen mit Spielplätzen gibt. Eben ein Lebensumfeld, dass ich fußläufig erreichen kann.

  

SW: Muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen?

PS: Nein, man muss sie ganz einfach mit Argumenten überzeugen. Es ist ja Irrsinn, sich sein Leben lang zu verschulden wegen so einem Häuschen, bei dem du dann eine winzige Grünfläche hast, auf der nach 10 Jahren erst ein richtiger Baum steht. Wofür? Wichtig ist allerdings, dass es vorzeigbare Alternativen gibt, die viel besser sind.

 

SW: Liegt es nicht auch an den Architekten, dass die Neubaugebiete so aussehen, wie sie sind?

PS: Natürlich – wenn sie denn beteiligt sind. Die absolute Mehrheit aller Einfamilienhäuser wird ohne Architekten gebaut, denn der ist zu teuer, zumindest wenn er seinen Job ordentlich macht. Die Planung soll heute möglichst schnell durchgezogen werden, und so sehen die Neubaugebiete ja auch aus. Die kannst Du, architektonisch gesehen, alle abreißen, ohne irgendeinen Kulturverlust zu erleiden. Es gibt natürlich Ausnahmen, nur haben die leider keinen Einfluss auf die Baukultur.

 

 SW: Sind humane Lösungen architektonisch teurer?

PS: Sie meinen, ob eine humane Architektur teuer ist? Nein, denn die Frage nach Humanität in der Architektur entscheidet sich in der Struktur, nicht darin, ob ich mit Marmor oder Fachwerk baue. Gute Architektur ist immer human.

 

Peter Sichau, 2017