“Eine peinigende Vorstellung: dass von einem bestimmten Zeitpunkt ab die Geschichte nicht mehr wirklich war. Ohne es zu merken, hätte die Menschheit insgesamt die Wirklichkeit plötzlich verlassen; alles was seither geschehen sei, wäre gar nicht wahr; wir könnten es aber nicht merken. Unsere Aufgabe sei es nun, diesen Punkt zu finden, und so lange wir ihn nicht hätten, müssten wir in der jetzigen Zerstörung verharren.“
Elias Canetti
Drei Hypothesen zum Verschwinden der Geschichte
Es gibt verschiedene einleuchtende Hypothesen, was dieses Verschwinden der Geschichte betrifft. Canettis Formulierung, „die Menschheit insgesamt hätte die Wirklichkeit plötzlich verlassen“, erinnert unwillkürlich an die Abhubgeschwindigkeit, die ein Körper benötigt, um sich von der Anziehungskraft eines Sternes oder eines Planeten zu befreien. Anhand dieses Bildes kann man sich vorstellen, dass die Beschleunigung der Moderne, der Technik, von Ereignissen und Medien, sowie die Beschleunigung aller ökonomischen, politischen und sexuellen Tauschandlungen uns in eine derartige Befreiungsgeschwindigkeit versetzt hat, dass wir aus dem Bezugsraum des Realen und der Geschichte herausgeflogen sind. Wir sind „freigesetzt“ in jedem Sinne des Wortes, derartig befreit, dass wir einen bestimmten Zeitraum verlassen haben. Wir haben einen bestimmten Horizont verlassen, innerhalb dessen das Reale noch möglich war, weil die Schwerkraft so stark ist, dass die Dinge sich reflektieren und somit eine bestimmte Dauer und bestimmte Folgen haben können.
Eine gewisse Langsamkeit (das heißt, eine bestimmte, wenn auch nicht sehr hohe Geschwindigkeit), eine gewisse, aber nicht allzu große Distanz und eine gewisse, aber nicht allzu große Freisetzung (die Energie für einen Bruch und eine Veränderung) sind notwendig, damit jene Art von Verdichtung oder Verfestigung entstehen kann, die für Ereignisse bezeichnend ist, die man Geschichte nennt, also jene Art von kohärenter Entfaltung von Ursachen und Wirkungen, die man das Reale nennt.
Jenseits des Wirkungsbereichs dieser Schwerkraft, die die Körper auf ihrer Umlaufbahn hält, verschwinden alle Sinnatome im Weltraum. Jedes Atom folgt seiner Bahn bis ins Unendliche und verschwindet im Weltall. Genau das erleben wir in unseren gegenwärtigen Gesellschaften, die danach streben, alle Körper, Nachrichten und Prozesse in alle möglichen Richtungen zu beschleunigen, und die mit Hilfe der modernen Medien jedes Ereignis, jede Nachricht und jedes Bild durch eine bis ins Unendliche führende Bahn simulieren. Jede politische, geschichtliche oder kulturelle Tatsache wird mit einer kinetischen Energie versehen, die sie aus ihrem eigenen Raum herausreißt und in einen Hyperraum hinausschleudert, wo sie jeglichen Sinn verliert, da sie niemals wiederkehren wird.
Was die Geschichte betrifft, so ist ein Nacherzählen unmöglich geworden, da es sich per Definition (re-citatum) um das mögliche Zurückverfolgen eines Sinns handelt. Damit sie bis ins Unendliche verbreitet werden kann, muss sie wie ein Partikel in Einzelteile zerlegt werden. So kann sie eine Geschwindigkeit der Nichtwiederkehr erreichen, die sie endgültig aus der Geschichte entfernt. Kein Ereignis kann sich der weltweiten Verbreitung widersetzen. Keine Bedeutung entgeht ihrer Beschleunigung. Keine Geschichte widersteht der Zentrifugierung der Tatsachen oder ihrer Kurzschließung in Echtzeit (auf der gleichen gedanklichen Ebene: keine Sexualität widersteht ihrer Befreiung, keine Kultur widersteht ihrem Ausverkauf, keine Wahrheit widersteht ihrer Verifizierung, etc.).
Auch die Theorie ist nicht mehr in der Lage, etwas zu „reflektieren“. Sie kann die Begriffe nur noch aus ihrem kritischen Bezugsfeld herausreißen und dafür sorgen, dass sie einen Punkt der Nichtwiederkehr überschreiten. Auch sie geht in den Hyperraum der Simulation ein. Und dadurch verliert auch sie jede „objektive“ Geltung und wird dem aktuellen System immer ähnlicher.
Die zweite Hypothese zum Verschwinden der Geschichte ist das Gegenteil der ersten, sie bezieht sich nicht mehr auf die Beschleunigung, sondern auf die Verlangsamung der Vorgänge. Auch sie kommt direkt aus der Physik.
Die Materie verzögert den Ablauf der Zeit. Genauer gesagt, die Zeit scheint an der Oberfläche eines sehr dichten Körpers langsamer abzulaufen. Dieses Phänomen wird größer, wenn die Dichte zunimmt. Die Folge dieser Verlangsamung besteht darin, dass die von diesem Körper ausgesandte Lichtwelle derartig verlängert wird, dass sie vom Beobachter wahrgenommen werden kann. Wird eine bestimmte Grenze überschritten, bleibt die Zeit stehen, und die Wellenlänge wird unendlich. Die Welle existiert nicht mehr. Das Licht erlischt.
Die Analogie zur Verlangsamung der Geschichte wird deutlich, wenn es um den Astralkörper von „schweigenden Mehrheiten“ geht. Unsere Gesellschaften werden von diesem Massenprozess beherrscht, und zwar nicht nur im soziologischen oder demographischen Sinn, sondern auch im Sinne von „kritischer Masse“ im Sinne der Überschreitung eines Punktes der Nichtwiederkehr. Das wichtigste Ereignis in unseren modernen Gesellschaften gerade während ihrer Mobilisierung und ihres revolutionären Prozesses (gegenüber den vergangenen Gesellschaften sind sie alle revolutionär) ist das Auftreten einer entsprechenden Trägheitskraft, einer gewaltigen Gleichgültigkeit und des schweigenden Potentials dieser Gleichgültigkeit. Diese träge Masse des Sozialen ist nicht das Ergebnis von fehlenden Tauschhandlungen, des Mangels an Information oder Kommunikation, sondern sie resultiert ganz im Gegenteil aus der Vervielfachung und Häufung von Tauschhandlungen. Sie kommt durch die übergroße Dichte von Städten, Waren, Botschaften und Kreisläufen zustande. Diese träge Masse ist der kalte Stern des Sozialen; und rund um diese Masse erkaltet die Geschichte. Völlig gleichgültig folgen die Ereignisse aufeinander und löschen sich gegenseitig aus.
Neutralisiert und immunisiert durch die Information, neutralisieren die Massen ihrerseits die Geschichte und saugen alles auf. Sie selber haben keine Geschichte, keinen Sinn, kein Bewusstsein und keine Begierde.
Dieses Mal ergibt sich das Gegenteil: Geschichte, Sinn und Fortschritt erreichen nicht mehr ihre Befreiungsgeschwindigkeit. Es gelingt ihnen nicht mehr, sich von diesem viel zu dichten Körper zu lösen, der ihre Bahn und die Zeit derartig verlangsamt, dass uns von jetzt an die Wahrnehmung und die Vorstellung der Zukunft entgleitet. Jede gesellschaftliche, geschichtliche und zeitliche Transzendenz wird von dieser Masse in ihrer schweigenden Immanenz absorbiert. Die politischen Ereignisse haben schon keine Eigenenergie mehr, die ausreichend wäre, um uns in Bewegung zu versetzen; sie laufen wie ein Stummfilm ab, für den wir kollektiv nicht verantwortlich sind. Hier endet die Geschichte, und zwar nicht, weil an Akteuren, an Gewalt (die Gewalt nimmt immer mehr zu) oder an Ereignissen (dank der Medien und der Informationstechnik gibt es immer mehr Ereignisse!) fehlt, sondern wegen der Verlangsamung, Gleichgültigkeit und Abstumpfung. Die Geschichte schafft es nicht mehr, über sich hinauszugehen, ihre eigene Endlichkeit ins Auge zu fassen und von ihrem eigenen Ende zu träumen, sie wird in ihrer unmittelbaren Wirkung begraben, sie erschöpft sich in Spezialeffekten und implodiert in Aktualität.
Im Grunde kann man nicht einmal vom Ende der Geschichte sprechen, denn sie wird nicht einmal die Zeit haben, ihr eigenes Ende einzuholen. Ihre Wirkungen beschleunigen sich, aber ihr Sinn verlangsamt sich unerbittlich. Sie wird damit enden, dass sie anhält und erlischt, so wie das Licht und die Zeit im Umfeld einer unendlich dichten Masse…
Eine dritte Hypothese, eine dritte Analogie. Es geht weiterhin um den Punkt des Verschwindens, den Punkt der Verflüchtigung, den vanishing point, dieses Mal allerdings aus der Sicht der Musik. Es geht um das, was ich als Stereoeffekt bezeichne. Wir sind besessen von high fidelity und der Qualität der Musik-„Wiedergabe“. Am Pult unserer Stereoanlage, ausgerüstet mit unseren Tunern, Verstärkern und Boxen, mischen, steuern und verfeinern wir die Tonquellen, sind wir auf der Suche nach vollkommener Musik. Ist das überhaupt noch Musik? Wo liegt die Schwelle der high fidelity, jenseits derer die Musik als solche verschwindet? Sie verschwindet nicht, weil es keine Musik gäbe, sondern weil sie diesen Grenzpunkt überschritten hat. Sie verschwindet in der Perfektionierung ihrer Materialität, in ihrem eigenen Spezialeffekt. Jenseits dieses Punktes gibt es keine Urteilskraft und kein ästhetisches Vergnügen mehr, sondern nur noch den reinen Klangrausch – und das ist das Ende der Musik.
Genauso verhält es sich mit dem Verschwinden der Geschichte: auch hier haben wir die Grenze überschritten, an der die Geschichte als solche durch die minutiöse technische Aufbereitung von Ereignissen und Informationen aufhört zu existieren. Häufige Direktübertragungen, Spezialeffekte, Nebeneffekte, fading – und der berühmte Rückkopplungseffekt, der in der Akustik durch eine zu große Nähe von Tonquelle und Aufnahmegerät zustande kommt und in der Geschichte durch eine zu große Nähe und somit durch die verheerende Überlagerung eines Ereignisses und seiner Ausstrahlung – ein Kurzschluss zwischen Ursache und Wirkung, so wie zwischen dem Objekt und dem experimentierenden Subjekt in der Mikrophysik (und in den Geisteswissenschaften!). All das hat eine radikale Ungewissheit zur Folge, was das Ereignis betrifft, so wie zu viel Klanggenauigkeit eine radikale Ungewissheit zur Folge hat, was die Musik betrifft. Canetti drückt das sehr gut aus: jenseits dessen ist nichts mehr wahr.
Deshalb entschwindet uns heute auch die zarte Musik der Geschichte, sie verschwindet in der mikroskopischen oder stereophonischen Zerlegung der Information.
Gerade durch die Überfülle an Informationen kann die Geschichte verschwinden. Gerade durch HiFi kann die Musik verschwinden. Gerade durch das Experimentieren kann die Wissenschaft ihren Gegenstand verlieren. Gerade wegen der Pornographie kann die Sexualität verschwinden. Überall findet sich der Stereoeffekt, der Effekt der absoluten Nähe des Realen: der gleiche Simulationseffekt.
Dieser vanishing point, dieser Punkt, vor dem es Geschichte und Musik gegeben hat, kann definitionsgemäß nicht ausgemacht werden. Wo soll die Perfektionierung der Stereoanlagen aufhören? Die Grenzen werden ständig weiter verschoben, denn sie sind Grenzen der Technikbesessenheit. Wo soll die Information aufhören? Gegen diese Faszination durch die „Echtzeit“, dem Gegenstück zur high fidelity, kann man sich nur moralisch wehren, und das hat nicht viel Sinn.
Die Überschreitung dieses Punktes kann somit nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch wenn Canetti das zu hoffen scheint. Wir werden die Musik vor dem Stereo nicht mehr wieder finden (es sei denn durch einen weiteren technischen Simulationseffekt), wir werden die Geschichte vor der Information und den Medien nicht mehr wieder finden. Das ursprüngliche Wesen der Musik und das ursprüngliche Konzept der Geschichte sind verschwunden, weil wir sie nicht mehr von ihrem Perfektionierungsmodell trennen können, das zugleich ihr Simulationsmodell ist, und weil wir sie nicht von ihrer künstlichen Überhöhung in eine Hyperrealität, die sie auslöscht, trennen können. Wir werden niemals mehr erkennen können, was das Soziale oder die Musik gewesen sind, bevor sie heute völlig unnütz perfektioniert wurden.
Wir werden niemals wissen, was die Geschichte war, bevor sie sich in der technischen Perfektionierung der Information erschöpfte – wir werden niemals wissen, was die Dinge waren, bevor sie sich in der Realisierung ihres jeweiligen Modells verflüchtigten.
So stellt sich wieder die Ausgangssituation ein. Denn dass wir die Geschichte verlassen, um in die Simulation einzutreten, ist nur die Folge der Tatsache, dass die Geschichte selber im Grunde nur ein gewaltiges Simulationsmodell war. Nicht in dem Sinne, dass sie nur insofern existiert hätte, wie man von ihr erzählt oder wie man sie interpretiert hat, sondern im Hinblick auf die Zeit, in der sie abläuft, jene lineare Zeit, die zugleich die Zeit des Endes und eines unbegrenzten Aufschubs des Endes ist. Das ist die einzige Zeit, in der Geschichte stattfinden kann, das heißt, eine Abfolge von Fakten, die nicht sinnlos sind und die von der Ursache bis zur Wirkung erzeugt werden, aber keine absolute Notwendigkeit haben und deren Zukunft ungewiss ist. Diese Zeit unterscheidet sich völlig von der Zeit ritueller Gesellschaften, in der alle Dinge bereits im Ursprung vollendet sind und die rituelle Handlung die Vollkommenheit dieses ursprünglichen Ereignisses nachzeichnet. Im Gegensatz zu dieser Ordnung der erfüllten Zeit mag die Freisetzung der „realen“ Zeit der Geschichte, die Erzeugung einer linearen und aufgeschobenen Zeit als rein künstlicher Vorgang erscheinen. Woher kommt dieser Aufschub? Warum muss das, was sich erfüllen soll (Jüngstes Gericht, Seelenheil oder Katastrophe), erst am Ende der Zeit geschehen und einen unberechenbaren Erfüllungstag anstreben? Dieses Modell von Linearität musste Kulturen, die kein Verständnis für einen Aufschub, für eine aufeinanderfolgende Verkettung und für Endlichkeit hatten, völlig fiktiv, sinnlos und gegenstandslos erscheinen. Dieses Szenario ließ sich übrigens auch nur schwer durchsetzen. Die Frühzeit des Christentums war von einem heftigen Widerstand gegen die Vorstellung gekennzeichnet, dass das Reich Gottes erst in ferner Zukunft erstehen sollte.
Ganze Gemeinschaften sind in den Tod gegangen, um die Heraufkunft des Reichs Gottes zu beschleunigen. Denn da es ihnen für das Ende der Zeiten versprochen war, brauchten sie nur der Zeit sofort ein Ende machen.
Alle vorgesehenen Ziele entschwinden uns, und die Geschichte hat keine Chance, sie zu verwirklichen, da sie inzwischen zu Ende gegangen ist (es ist immer wie bei Kafkas Geschichte vom Messias: er kommt zu spät, einen Tag zu spät, und diese Verzögerung ist unerträglich). Je direkter man sich mit dem Messias verbindet, umso schneller kommt das Ende.
Nicht erst unsere Besessenheit von der Echtzeit, von der Unmittelbarkeit der Information, entspricht einem geheimen Millenarismus: die Dauer auslöschen, die aufgeschobene Zeit, die Entferntheit des Ereignisses auslöschen, sein Ende durch die Freisetzung der linearen zeit vorwegnehmen und die Dinge beinahe schon erfassen, bevor sie stattgefunden haben. In diesem Sinne ist die Echtzeit noch viel künstlicher als die aufgeschobene Zeit, und zugleich ist sie ihre Verleugnung – wenn wir das Ereignis unmittelbar genießen wollen, wenn wir es augenblicklich erleben sollen, dann deshalb, weil wir kein Vertrauen mehr in den Sinn oder die Finalität des Ereignisses haben. Die gleiche Verleugnung zeigt sich auch in scheinbar umgekehrten Verhaltensweisen – alles zu einem historischen Ereignis machen, alles archivieren und alles aus unserer Vergangenheit und aus der Vergangenheit aller Kulturen speichern. Ist das nicht ein Symptom des kollektiven Gespürs für das Ende, dafür, dass das Ereignis und die lebendige Zeit der Geschichte vorbei ist und dass man sich mit dem gesamten künstlichen Gedächtnis und mit allen Zeichen der Vergangenheit wappnen muss, um sich gegen die Zukunftslosigkeit und die uns bevorstehenden Eiszeiten zu wehren? Sind die geistigen und intellektuellen Komplexe nicht dabei, sich in den elektronischen Speichern und Archiven zu vergraben und dort zu versinken, um eine unwahrscheinliche Wiederauferstehung anzustreben?
Diese Gesellschaften erwarten nichts mehr von einem künftigen Beginn, sie haben immer weniger Vertrauen in die Geschichte, sie verschanzen sich hinter ihren Zukunftstechnologien, hinter ihren Datenbanken und in den in sich abgeschlossenen Kommunikationsnetzen, in denen die Zeit letztlich durch reine Zirkulation vernichtet wird – diese Generationen werden vielleicht nie wieder aufwachen, aber das wissen sie nicht.
In den meisten klassischen ästhetischen Theorien ist die Interpretation von Ästhetik das Kriterium des Urteils in der Kunst. Daraus ergibt sich, dass das Wissen um den Ausdruckswert, das heißt das Wissen um das, was schön, erhaben, harmonisch usw. ist, Vorbedingung für ein ästhetisches Bewusstsein wäre. Wenn aber das Wissen um diese Kriterien eine Vorbedingung wäre, so muss dieses Wissen der Erkenntnis der Werte, die man ausdrücken will, vorausgehen. Wäre dem jedoch so, dann hätte das, was ausgedrückt werden soll, auch bestimmte oder bestimmbare Eigenschaften, also einen Gehalt, bevor es eine Gestalt annimmt. Doch wenn der Gehalt irgendwelche Eigenschaften hat, so erkennt man diese nicht bevor, sondern erst, nachdem eine Umsetzung in eine Gestalt stattgefunden hat. Demzufolge muss die Erkenntnis jener Werte, die vorher nie zum Ausdruck gelangt sind, dem Wissen um sie vorausgehen.
Die Frage, um die es uns geht, lautet also: gibt es in der Architektur und Kunst ein irrationales Kriterium, eine Bedingung, im Sinne eines Naturgesetzes, die nicht kognitiv erfasst, sondern nur intuitiv erspürt werden kann? Falls ja, dann kann auch bei der Rezeption einer Gestalt, die diesen Gehalt besitzt, dieses Kriterium als urteilsbestimmende Größe erfahren (im Sinne von erkannt) werden.
In der Wahrheit der Natur existiert (im Gegensatz zur Wirklichkeit) eine umfassende (kosmische) Ordnung, die allen Erscheinungsformen der Natur innewohnt und die a priori auch von allen Wesen der Natur erkannt werden kann, was die oberste Bedingung für das Bestehen eines harmonischen Prinzips in der Natur darstellt.
Ausgestattet mit den Fähigkeiten des Erkennens dieser Ordnung im umfassenden Sinne ist der Mensch die einzige Kreatur in der Natur, die, wie Beuys es formuliert „ …im Gegensatz zu Fauna und Flora über alle Richtkräfte-…“ verfügt. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihm, sich vor dem Hintergrund der Natur bewusst als Wesen abzubilden und (was noch wichtiger ist) sich über diese Abbildung auch wieder als Mensch zu identifizieren. Der schaffende Mensch bedient sich also der Mittel der Natur, um das zu schaffen, was die Natur ohne ihn nicht hervorbringen kann.
Das Erkennen dieser Ordnung in der Kunst ist es, was den Menschen in „Erstaunen“ versetzt. Ein Erstaunen, das erst durch den Akt eines Menschen möglich wird, der das, was ist, mit dem verbindet, was noch nicht ist.
Das Ziel jeder künstlerischen Handlung als Äußerung des Menschseins in der Natur muss daher sein, den Betrachter in ein „Erstaunen“ zu versetzen, über seine eigene Existenz in der Natur, im Sinne eines Erkennens, eines sich Wiedererkennens (Identifizierens).
Die Ambivalenz und das Gleichgewicht zwischen dem, was dabei für den Menschen begreifbar ist (Ratio), und dem, was fühlbar (Irratio), und was nur intuitiv erfassbar (Intuition) ist, wird dabei abhängig vom Schaffenswillen und vom Ausdruckswillen des Schaffenden.
Das ist es, was wir unter dem Sinn eines Werkes (im architektonischen oder künstlerischen Sinne) verstehen. Dieser Sinn ist absolut und somit nicht abhängig von den verwendeten Ausdrucksmitteln oder -formen, also Malerei, Theater, Literatur, Architektur etc. und er unterliegt auch keinem ästhetischen Wertungsmodell, da ein ästhetisches Kriterium ja erst auf Grundlage der Sinnhaftigkeit des Werkes gebildet werden kann.
Während die Mittel des Ausdrucks also schon immer Teil eines bestehenden Vokabulars sind, hat das, was im Schaffensakt durch den Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt damit entsteht, nie zuvor existiert. Die Verantwortung des schaffenden Menschen ist es daher, diesen Sinn für die Gegenwart mit den ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln einmalig und erstmalig zu artikulieren.
Daraus folgt, dass dieser Akt, weil neu und unbekannt oftmals nicht einfach und verständlich, sondern stark und scharf daherkommt und dennoch von den Menschen „erkannt“ werden kann.
Die zweite Frage, die sich uns nun stellt, ist aber auch die, ob der Mensch und hier meine ich vor allem den modernen Menschen (also mindestens den, der Neuzeit), überhaupt noch in der Lage ist, diesen Sinn künstlerischen Handelns zu rezipieren, was heißen soll, sich im künstlerischen Werk durch „Erstaunen“ wiederzuerkennen in seiner Stellung innerhalb der Natur.
Einfach, im Sinne einer harmonischen Ordnung der Dichotomie Mensch/Natur und der Möglichkeit des Erkennens solch menschlichen „künstlerischen“ Handelns (der Begriff muss natürlich je nach Epoche relativiert werden) war das Zusammenwirken von Kulturleistung und Rezipient, solange auf beiden Seiten ein kanonisiertes Verständnis der eigenen Existenz in einer kosmischen Weltordnung bestand, also vereinfacht ausgedrückt eine für alle allgemein gültige metaphysische Instanz existierte die das verinnerlichte Wissen im Sinne von Erkenntnis einer umfassende Ordnung auch außerhalb der rationalen Wahrnehmungsmöglichkeiten darstellte.
Diese daseinsnotwendige Seite des Menschen befähigte ihn, aus seinem Selbstverständnis heraus zu glauben, zu hoffen, zu verlangen und dadurch eine menschliche Gemeinschaft entstehen zu lassen, die in ihren kulturellen Leistungen, also in ihrem Ausdruck des Menschseins in der Natur nicht als Individuum in Physis, sondern als menschlich-geistiges Wesen, Kulturleistungen schuf, die um so erstrebenswerter galten, je ideeller sie formuliert waren und in ihrem Bedeutungswert und ihrer Eindringlichkeit bis heute sicher unerreicht blieben, wenn sie nur an die Bauten des Altertums und der Antike denken.
Mit dem Aufkommen des Rationalismus wurde dieses Weltbild grundlegend aufgebrochen. Gleichzeitig hatte die Einführung der Buchdruckkunst die rasche Verbreitung von Informationen (also Bildern) zur Folge. Damit hatte das Medienzeitalter begonnen. Eine Zeitspanne, in zunehmendem tempo abwechselnder, Erfindungen, Entdeckungen, Bewegungen und Gegenbewegungen in allen Bereichen des menschlichen Seins bestimmte die Entwicklung – die Folge war eine durchgreifende Veränderung und Erosion der abendländischen Geistes- und Kultur-„Landschaft“.
Jede Veränderung gebar wechselseitig und widerstrebend neue philosophische Reflexionen mit revolutionären politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen und dies in einem Tempo, dass noch gefördert durch technische Umwälzungen zu einem stetig ansteigenden sturem des Erfindens und Konsumierens und der unweigerlichen Entfremdung des Menschen von seinen in den Gesetzen der natur verankerten Wahrnehmungsmöglichkeiten, also der Einheit seiner Sinne, führte.
Mit zunehmender Geschwindigkeit stieg dabei auch die Beliebigkeit der Ausdrucksformen und sank die Aufnahmefähigkeit des Menschen durch stetige Reizüberflutung. Der Mensch der Aufklärung und vor allem der moderne verlor somit zunehmend die Fähigkeit der intuitiven Rezeption zu Lasten einer medial dominierten kognitiven, also „praktisch- naiven“ Perzeption seiner Umwelt.
Fakt daraus bleibt bis zur Jetztzeit daher eine fundamentale Verwirrung des menschlichen Wesens durch den Verlust einer einheitlichen Sinneswelt, eine Art kollektives Unbehagen, das zum roten Faden der kulturellen Artikulation der Neuzeit wurde. Nicht mehr die kollektive Höchstleistung zur Ehre einer metaphysischen, das Dasein determinierenden Ordnungsmacht ist das Abbild der Dichotomie Mensch-Natur, sondern eine auf Herrschaftsanspruch und Dominanz über die Natur, durch logisches Wissen um ihre Gesetzmäßigkeiten gegründete „Bilderwelt“.
Der neuzeitliche Mensch kommt nicht mehr über die Wirklichkeit selbst, sondern über das Bild der Wirklichkeit zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Aus dem Bild der Wirklichkeit wird damit zwangsläufig die Wirklichkeit als Bild.
Der neuzeitliche Mensch ist also der Ansicht, über die Welt ‘im Bilde sein’ zu müssen. Weil er Sein als Vorgestelltheit des Seienden bestimmt, muss er sich die Welt vorstellen, d. h. vor sich hinstellen, um festzustellen, wie sie in Wirklichkeit ist. – welcher Irrtum des menschlichen Selbstverständnisses!
Doch was ist für uns heute die Konsequenz dieser Entwicklung? Befinden wir uns in einer Art Übergangsform, die nur dadurch aufgelöst werden kann, indem der Mensch sich in zwei Wahrnehmungswelten teilt?
Oder gar durch die Verkümmerung der irrationalen Seite seines Seins nur noch die rationale Seite erhält, sozusagen in einer „praktischen“ Welt, die ein Eigenleben entwickelt, sich also abkoppelt von dem erklärenden Teil und ihren Horizont mit den Möglichkeiten der individuellen Perzeption gleichsetzt? Die aus sich selbst heraus eigene Erklärungsmodelle und Lebensformen entwickelt, in der die rationalistische Sichtweise auch irrationale Phänomene beschreibt?
Einiges deutet darauf hin, dass wir immer noch auf diesem Weg sind.
Die Frage, die uns nun interessiert, ist, ob der Mensch in diesem Zustand immer noch nach Befriedigung der gleichen Rezeptionsbedürfnisse strebt. Eine ganze Reihe von Anzeichen sprechen dafür.
Wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage des Menschseins durch die künstlerischen und architektonischen Auseinandersetzungen vor allem des 20. Jahrhunderts. Alle diese unterschiedlichen Strömungen haben in ihrer Fragmentarisierung des Kunstbegriffes das Verlangen nach Wiedererlangung der Ganzheit des Menschen mit der Natur durch die Kunst zum Ziel oder doch zumindest zum Hintergrund.
Die Botschaft bleibt also offensichtlich gleich und die Form wird Mittel zum Zweck!
Oder anders ausgedrückt die Ganzheit aller Kunstgattungen und -formen hat stets einen „gleich-artigen“ Inhalt. Nur Ausdrucksweise und Ausdrucksmittel wechseln.
In diesem Zusammenhang tritt für uns Architektur zwar als physische Äußerung, also gestaltete Materie auf, das architektonische Werk jedoch bildet eine untrennbare Verbindung von Idee, Text, Zeichnung, Objekt und Abbildung als diskursiven Prozess.
Das mag inkonsequent klingen, da wir als Architekten erst einmal versuchen müssten, im klassischen Sinne allein das Bauwerk als Träger eines ideellen Gehaltes zu verstehen, aber die Annäherung an ein Thema, sozusagen die Forschung an etwas, der Diskurs (der zu keinem Ende kommt, weil die Fragen, die auftauchen, nie beantwortet werden können, ohne diesen Prozess zu beenden), das ist etwas, das für uns eine zentrale Rolle spielt.
Das gebaute (also die Abbildung der Figur im architektonischen Raum) ist für uns in diesem Zusammenhang nicht End-, sondern „Zwischenstadium“ oder noch besser gesagt ein Aggregatzustand unserer Auseinandersetzung mit der Aufgabe oder noch besser gesagt unserer Wahrnehmung der Aufgabe. Und diese Wahrnehmung einer Aufgabe, also das Bild, das wir von einer Sache haben, artikulieren wir mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln, die jeweils immer für sich einen spezifischen Informationsgehalt haben, so dass alle zusammen den Prozess abbilden, jedes einzelne aber autonom bleibt.
Entscheidend ist dabei für unsere Arbeit Form, Art und Maß, in dem beim Rezipienten ein Erkennen im Sinne von Wiedererkennen als ein nicht rational fassbares, intuitiv begründetes Erstaunen induziert wird.
Erstaunen nicht im Sinne des Bestaunens einer technischen oder formalen (und somit vergänglichen) Sensation und schon gar nicht eines, „Verführens“, sondern eines „Sich-erinnerns“. Dieses Sich-Erinnern, quasi eine art Deja-vu des eigenen Seins, findet auf mehreren Ebenen statt. zuallererst im unbewussten außerhalb der Wirklichkeit, bzw. des Wahrnehmungshorizontes (über die Intuition), in den irrationalen individuellen Prägungen und Erfahrungen (über das Gefühl) und letztlich im rationalen, vergleichenden und wertenden (über die Vernunft).
Zumindest die beiden letztgenannten sind natürlich stark von kollektiven oder individuellen Prägungen abhängig.
In diesem Sinne ist unseren Projekten der kognitive Gehalt nicht immanent, vielmehr wechselt dieser mit der Zeit und dem Betrachter, ähnlich einem Buch, das von unterschiedlichen Menschen oder in unterschiedlichen Zeiten ganz verschieden aufgenommen wird oder das bei einem selbst beim zweiten Mal lesen ganz andere Assoziationen und Eindrücke hervorruft als beim ersten Mal oder das ganz anders wirkt, sofern man vielleicht den Inhalt schon in anderer Form (z.B. als Film) rezipiert hat etc. Gleich bleibt dagegen stets der intuitive Gehalt des Werks.
In diesem Sinne versuchen wir daher eher „Merksteine“ zu setzen, die sich vor ihrem jeweiligen Hintergrund so abbilden, dass sie sich in ein bestimmtes Verhältnis zum Umfeld stellen und dieses dadurch quasi aktiv mit einbeziehen, also deren Bedeutungsgehalt ebenfalls aktivieren aber auch relativieren. Diese Setzung ist stets darauf ausgerichtet die Qualität in einer Wirkung zu erzeugen, die einen „berührt“.
Wichtige Entscheidungen treffen wir daher nie rational. Wir versuchen eher, die rationalen Ansätze während der Arbeit ständig in ein Gleichgewicht zu den irrationalen Qualitäten zu bringen, bzw. in eine Beziehung zu setzen. Insofern sind wir überhaupt keine Anhänger eines wie auch immer gearteten Stils, sondern eher „Heimatarchitekten“ im besten Sinne des Wortes, die sozusagen nicht hochdeutsch sondern Dialekt sprechen.
Natürlich verfolgen wir mit unserer Auffassung von Architektur nicht das Ziel, den antiken oder mittelalterlichen Menschen wieder zu erwecken.
Andererseits kann man aber fundamentale Gesetze der menschlichen Natur und seines Erkenntnisumfeldes nicht durch eine neuzeitlich-aufgeklärte Sichtweise der Welt verleugnen.
Vielleicht hat ja unsere Architektur zur Folge, dass die Menschen im Kontakt mit unserem Archivneubau in „Erstaunen“ geraten und sich so auch ein Stück ihrer selbst erinnern.
Peter Sichau 2007
Vortrag imZentrum für Handwerk und Denkmalpflege Johannesberg