ALS OB – UNGANZ ZU SEIN IST UNSER SCHIKCSAL
In den meisten klassischen ästhetischen Theorien ist die Interpretation von Ästhetik das Kriterium des Urteils in der Kunst. Daraus ergibt sich, daß das Wissen um den Ausdruckswert, das heißt das Wissen um das, was schön, erhaben, harmonisch ist, Vorbedingung für ein ästhetisches Bewußtsein wäre. Wenn aber das Wissen um diese Kriterien eine Vorbedingung wäre, so muß dieses Wissen der Erkenntnis der Werte, die man ausdrücken will, vorausgehen. Wäre dem so, dann hätte das, was ausgedrückt werden soll, auch bestimmte oder bestimmbare Eigenschaften, also einen Gehalt, bevor es eine Gestalt annimmt. Doch wenn der Gehalt irgendwelche Eigenschaften hat, so erkennt man diese nicht bevor, sondern erst nachdem eine Umsetzung in eine Gestalt stattgefunden hat. Demzufolge muß die Erkenntnis jener Werte, die vorher nie zum Ausdruck gelangt sind, dem Wissen um sie vorausgehen. Wohlgemerkt geht es hierbei nicht um die Frage, ob zuerst eine künstlerische „Theorie“ existieren muß, um darauf aufbauend ein Werk praktisch umzusetzen, d. h. also Theorie von Praxis getrennt wäre. Diese kognitiven Vorgänge kann man, glaube ich, nicht trennen; die Frage, um die es geht, lautet vielmehr, ob es ein nicht kognitives, nicht rationales Kriterium im Sinne einer Vorbedingung, sozusagen einer Ordnung im Sinne eines Naturgesetzes gibt, die nicht kognitiv erkannt, sondern nur intuitiv erspürt werden und also auch im Zusammenhang einer Gestalt, die diesen Gehalt besitzt, wahrgenommen werden kann.
Wir glauben, daß der Mensch, und hier meinen wir auch den modernen Menschen der Neuzeit, trotz seines aufgeklärten Geisteszustandes, als Teil der Natur, die Fähigkeit besitzt zu erkennen, ob etwas dieser Ordnung angehört, dieser Ordnung, der alle Vorgänge in der Natur unterliegen und die der physischen Präsenz einer Sache vorangestellt ist. Das Erkennen dieser Ordnung, egal in welchem bewußten menschlichen Akt des Sich-ausdrückens, ist es, was den Menschen in Erstaunen versetzt. Ein Erstaunen, daß erst durch den Akt eines anderen Menschen möglich wird und das, was ist mit dem verbindet, was noch nicht ist. Während die Mittel des Ausdrucks dabei stets Teil eines immer schon dagewesenen Vokabulars sind, hat das, was durch diese Ordnung im Gestaltungsakt durch den Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt entsteht, nie zuvor existiert. Die Ambivalenz und das Gleichgewicht zwischen dem, was begreifbar ist (Ratio) und dem, was nur gespürt werden kann (Irratio), ist abhängig vom Schaffenswillen und vom Ausdruckswillen des Schaffenden, der sich der mittel der Natur bedient, um das zu schaffen, was die Natur ohne den Menschen nicht hervorbringen kann, den „künstlichen“, in unserem Sinne künstlerischen Akt, der den Menschen als einmalig im universalen Naturkosmos erkennbar werden läßt. Oder wie F. L. W. sagt: „Die Natur bringt nur Geschöpfe hervor, die Kunst aber bringt den Menschen hervor“.
In dieser Dichotomie finden Mensch und Natur ihre Stellung in einer harmonischen Ordnung. Dies ist das Ziel jeder künstlerischen Handlung, das Ziel, das den Betrachter in ein Erstaunen“ versetzt, über seine eigene Existenz in der Natur, im Sinne eines Sich-Wiedererkennens. Das ist es, was wir unter dem Sinn eines Werkes (im kulturellen oder künstlerischen Sinne) verstehen. Dieser Sinn ist nicht abhängig von den verwendeten Ausdrucksmitteln, also Theater, Literatur, Architektur etc. und unterliegt auch keinen ästhetischen Wertungsmodellen, da ein ästhetisches Kriterium ja erst auf Grundlage der Sinnhaftigkeit eines Werkes gebildet werden kann. Die Verantwortung des Künstlers ist es, diesen Sinn für die Gegenwart, mit den ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln einmalig und erstmalig zu artikulieren. Daraus folgt, daß dieser Akt, weil neu und unbekannt, meistens nicht einfach und verständlich, sondern oftmals stark und scharf daherkommt und dennoch von den Menschen „erkannt“ wird.
Nun, wenn das alles so einfach ist, denken Sie jetzt sicher, müßten wir uns heut hier ja nicht den Kopf über dieses Thema zerbrechen. Was ist also geschehen? Wie verhält es sich mit dieser Dichotomie Mensch-Natur und funktioniert das wirklich so einfach, wie eben beschrieben? Zur Betrachtung dieser Frage können wir uns einen kurzen Rückblick in die Geschichte leider nicht ersparen:
Einfach, im Sinne eines Funktionierens der Dichotomie Mensch/Natur und der Möglichkeit des Erkennens solch menschlichen „künstlerischen“ Handelns (der Begriff muß natürlich, je nach Epoche, relativiert werden) war das Zusammenspiel von Kulturleistung und Rezipient, solange, als auf beiden Seiten ein kanonisiertes Verständnis der eigenen Existenz in einer kosmischen Weltordnung bestand, also vereinfacht ausgedrückt, eine für alle allgemeingültige metaphysische Instanz existierte, die das verinnerlichte Wissen, im Sinne von Erkenntnis einer umfassenden Ordnung auch außerhalb der rationalen Wahrnehmungsmöglichkeiten, darstellte. Diese im besten Sinne des Wortes irrationale (aber daseinsnotwendige) Seite des Menschen befähigte ihn, aus seinem Selbstverständnis heraus zu glauben, zu hoffen, zu verlangen und dadurch eine menschliche Gemeinschaft entstehen zu lassen, die in ihren kulturellen Leistungen, also in ihrem Ausdruck des Menschseins in der Natur nicht als Individuum in Physis, sondern als menschlich-geistiges Wesen Kulturleistungen schuf, die um so erstrebenswerter galten, je ideeller sie formuliert waren und in ihrem Bedeutungswert und ihrer Eindringlichkeit bis heute unerreicht blieben. Demzufolge bis heute ihren ungebrochenen Einfluß auf das menschliche Selbstverständnis ungebrochen (man denke nur an die Bauten des Altertums und der Antike).
Mit dem Aufkommen des Rationalismus wurde dieses Weltbild erstmals grundlegend aufgebrochen. Gleichzeitig hatte die Einführung der Buchdruckkunst die rasche Verbreitung dieses neuen Gedankengutes (und natürlich auch aller anderen Informationen) zur Folge. Damit hatte das Medienzeitalter begonnen. Eine lange Zeitspanne ständiger Umwälzungen, Erfindungen, Entdeckungen, Bewegungen und Gegenbewegungen in allen Bereichen des menschlichen Seins bestimmte die nächsten Jahrhunderte – die Folge war eine durchgreifende Veränderung und Erosion der abendländischen Geistes- und Kultur-„Landschaft“. Jede Veränderung gebar wechselseitig und widerstrebend neue philosophische Reflexionen mit revolutionären politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen und dies in einem Tempo, daß, noch gefördert durch technische Umwälzungen, zu einem stetig ansteigenden Sturm des Erfindens und Konsumierens und der unweigerlichen Entfremdung des Menschen von seinen in den Gesetzen der Natur verankerten Wahrnehmungsmöglichkeiten und Rezeptionsgesetzen, nämlich einem anthropologischen, also auf den Menschen bezogenen, Raumgefühl und Intuition führte. Mit zunehmender Geschwindigkeit stieg auch die Zunahme der Beliebigkeit der Ausdrucksformen und sank die Aufnahmefähigkeit der Menschen durch stetige Reizüberflutung. Die Folgen sind bekannt.
Der Mensch der Aufklärung, und vor allem der Moderne, verliert zunehmend die Fähigkeit der intuitiven Rezeption zu Lasten einer medial beherrschten kognitiven, also im philosophischen Sinne „praktischen und naiven“ Perzeption seiner Umwelt. Parallel dazu steigt seine Sehnsucht nach Ausgleich dieses Defizites, entweder durch Hinwendung zu einer (nicht befriedigbaren) Übersteigerung des kognitiven Teils, was sich in einer immer schneller wechselnden Abfolge von Stilen, Moden und Gesten zeigt sowie einer stetig zunehmenden Geschwindigkeit des Konsumverhaltens oder einer einseitigen oberflächlichen Verklärung einer metaphysischen Seite, befriedigt durch Mystiker, Religionsprediger, Esoteriker oder sonstiger Sektierer.
Fakt bleibt jedoch bis zur Jetztzeit eine Verwirrtheit des menschlichen Wesens, eine Art kollektives Unbehagen (zumindest des reflektierenden Teils der Bevölkerung), das zum roten Faden der kulturellen Artikulation der Neuzeit wird. Nicht mehr die kollektive Höchstleistung zur Ehre einer übergeordneten, das Dasein determinierenden Ordnungsmacht, ist das Abbild der Dichotomie Mensch-Natur, sondern der auf Herrschaftsanspruch und Dominanz über die Natur, durch angebliches Wissen um ihre Gesetzmäßigkeiten gegründete Schaffensakt – welche Hybris, welcher Irrtum!
Die Stellung des modernen, „praktischen“ Großstadtmenschen ist daher ein zentrales Thema der philosophischen und künstlerischen Entwicklungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese Auseinandersetzung ist bis heute nicht abgeschlossen! Eine Auseinandersetzung, die den modernen Menschen in einem existentiellen Konflikt des Verlustes seiner Einheit des Menschentums sieht. einer Einheit, die vor allem auf dem Glauben, dem Wahn (im positiven Sinne), dem Streben nach dem Ideellen innerhalb eines kosmischen universellen Weltbildes beruht, wird mit Aufkommen des Rationalismus zuerst theoretisch, philosophisch und mit den gesellschaftlich-philosophischen Umbrüchen der Neuzeit praktisch für jeden einzelnen evident.
Doch was ist für uns heute die Konsequenz dieser Entwicklung? Befinden wir uns in einer Übergangsform, die nur dadurch aufgelöst werden kann, indem der Mensch sich in zwei Wahrnehmungswelten teilt? Oder gar durch die Verkümmerung der irrationalen Seite seines Seins nur noch die rationale Seite erhält, sozusagen in einer „praktischen“ Welt, die ein Eigenleben entwickelt, sich also abkoppelt von dem erklärenden Teil und ihren Horizont mit den Möglichkeiten der individuellen Perzeption gleichsetzt?, die aus sich selbst heraus eigene Erklärungsmodelle und Lebensformen entwickelt, in der die rationalistische Sichtweise auch irrationale Phänomene beschreibt, d. h. z. B.: Wir glauben nicht an Gott und dennoch tun viele so, als ob sie an ihn glauben, denn wenigstens ästhetisch wollen viele diese Vorstellung (ob bewußter oder unbewußter Selbstbetrug sei dahingestellt) nicht aufgeben, daß ein Weltwesen uns schuf, zu dem man in dunklen Stunden zurückkehren könne.
Einiges deutet darauf hin, daß wir immer noch auf diesem Weg sind. Ein Weg, der allerdings zwangsläufig in die Irre führt, in -ismen und Selbstbetrug. Der moderne Mensch, also wir alle, lebt ständig nur „als ob“. Und genau das empfinden viele als unnatürlich, als zerklüftet und zerrissen, sie wünschen sich, daß Glauben und Leben wieder eins würden, was jedoch nicht passieren kann. „Unganz zu sein ist unser Schicksal“, schreibt der Philosoph Ernst Bergemann 1920. Wir sind „Übergangswesen“ in einem Stadium, in dem wir weiter steigen müssen, bis vielleicht eines Tages eine neue Form des Eins-seins von Glauben und Leben entsteht. Bis dahin müssen wir Kompromisse schließen. „der Pragmatismus hat uns definiert. So sind wir heilvoll unheilvoll.“ Am meisten wohl unheilvoll, sofern wir nicht an der Oberfläche haften, uns dadurch also der Konflikt unseres Menschseins bewußt wird, denn wer ganz Mensch ist, also nicht nur aus Ratio/Intellekt, sondern auch aus Irratio, also Glauben, Verlangen und Hoffnung besteht, der kann mit einer Situation des Kompromisses sicher nicht zufrieden sein. Er ist in seinem Menschsein gebrochen.
Die Frage, die uns nun interessiert ist, ob der Mensch in diesem Zustand der Zerrissenheit, der offensichtlichen Orientierungslosigkeit, immer noch nach Befriedigung der gleichen Rezeptionsbedürfnisse strebt, ja sogar die Suche nach dem Wiedererkennen seiner wesentlichen irrationalen Merkmale sogar überwiegt. Eine ganze Reihe von Anzeichen sprechen dafür.
Wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit dieser zentralen Frage des menschlichen Seins durch die künstlerischen und architektonischen Strömungen der letzten 100 Jahre. Alle haben das Verlangen nach Wiedererlangung der Einheit des Menschen mit der Natur durch die Kunst zum Ziel oder doch zumindest zum Hintergrund. Ausgehend von eher spiritistisch theosophischen Einflüssen der Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts reicht die Liste derer von Steiner, Klee, Kandinsky, Debussy und Taut, über Satie, Skrijabin, Munch, de Kooning, Schwarz und Aalto bis hin zu Kahn, Beuys und Herzog & de Meuron, um nur einige Beispiele wahllos zu benennen. Und Theo van Doesburg, der mehr durch seine Freundschaft zu Kandinsky solchem Gedankengut anhing, beschrieb das universale Wesen der Kunst als Position des Bauhaus Mitte der 20iger Jahre: „Alle Künste haben gleichartigen Inhalt. Nur Ausdrucksweise und Ausdrucksmittel sind verschieden.“ Sofern alle Künste den gleichartigen Inhalt haben, müßte dieser Inhalt also auch unabhängig vom jeweiligen Ausdrucksmittel (also der Kunstgattung) durch den Rezipienten gleich wahrgenommen werden. Und dies unabhängig von der Zeit, da die zeitliche Erscheinungs-Form ja nur den Zweck verfolgt, den Rezipienten in seinem jeweiligen Raum-Zeit-Gefüge zu erreichen, ergo: die Botschaft bleibt gleich, nur die Form der Artikulation ändert sich!
Somit haben wir es vor allem mit einem Formproblem zu tun. Und hier haben wir für uns eine besondere Art entwickelt, die den bisherigen Formbegriff in der Architektur weiterfaßt. Für uns ist Architektur nicht nur das Gebäude als physisches Objekt, d. h. also die Gestaltung von Materie, sondern in erster Linie Idee, Text, Zeichnung und Abbildung, aber auch natürlich das Objekt. Das mag jetzt erst mal inkonsequent klingen, da wir ja Architekten sind und also erst mal versuchen müßten zu bauen, aber die Annäherung an ein Thema, sozusagen die Forschung an etwas, also der Prozeß (der zu keinem Ende kommt, weil die Fragen, die auftauchen, nie beantwortet werden), das ist etwas, das für uns eine zentrale Rolle spielt. Das Gebaute ist für uns daher ein „Zwischenstadium“ oder noch besser gesagt ein Aggregatzustand unserer Auseinandersetzung mit der Aufgabe. Deshalb ist uns auch die Abbildung unserer Bauten oder das nicht gebaute Projekt genauso wichtig, wie das Physische selber, wobei es durchaus sein kann, daß ein Aggregatzustand für den jeweiligen Zweck oder den Nutzen besser ist, als der andere, also eine Schneeflocke kann natürlich genauso in einem Weihnachtslied, wie in einem Schneemann oder einer gemalten Winterlandschaft ausgedrückt werden, aber mit dem Weihnachtslied läßt sich natürlich nur schwer eine Schneeballschlacht veranstalten. Alle drei Ausdrucksmittel hängen also miteinander zusammen und sind doch autonome Artikulationen derselben Sache. Das sind jeweils unterschiedliche Stadien der Auseinandersetzung mit dem gleichen Thema, aber auch mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln. Und daher erlauben sie uns jeweils unterschiedliche Perspektiven und Distanzen auf die Arbeit, einen fortwährenden Diskurs mit der Idee in unterschiedlichen Zuständen, jede für sich autonom als Ausdrucksmittel und dennoch nicht unabhängig voneinander. Und gerade der Diskurs ist etwas ganz Entscheidendes. Der geht auch nach der Fertigstellung jeder Phase weiter – fast unbegrenzt. Denn für den Prozeß ist es für uns besonders wichtig, genügend Distanz zum kognitiven Teil der Aufgabe zu halten, also z. B. die Grundrissgestaltung. Das ist natürlich ein wichtiger Aspekt, aber eben doch mehr eine handwerkliche Geschichte, die auch stark dogmatisiert ist, von wegen offener Grundriss, demokratisches Bauen, generationenübergreifend usw., das halten wir für ziemlichen Quatsch, denn letztendlich sind die Bedürfnisse viel weniger „neuzeitlich“, als einem das oft weisgemacht werden soll. Das ist eben ein Teil, der z. B. bei Wohnungsbauten bei allen Menschen sehr rudimentär geprägt ist und vor allem mit Rückzug, Intimität, Geborgenheit etc. zu tun hat. Nicht zuletzt sind die Wohnungsgrundrisse des 19. Jhdts. mit ihren undifferenzierten Raumteilungen gar nicht mal so schlecht und ansonsten ist das eine Frage der individuellen Anpassung an den Bauherrn und seine Anforderungen und keine ideologische Spielwiese. Anders verhält es sich da schon mit dem Baukörper und den Räumen, die er bildet. Die müssen ganz klar bestimmten Regeln und Hierarchien folgen. Das heißt also, wir sind überhaupt nicht der Meinung, daß alles vom Grundriß ausgeht oder dann Unordnung und Willkür herrschte, wenn es nicht so ist (s. LC), man kann genauso gut auch ein Haus bauen, bei dem die Hülle, der Formkörper gar nichts mit dem Grundriß in der Form zu tun hat, daß der Körper auf jede Figur des Grundrisses reagieren muß. Entscheidend ist, wie das ganze räumlich „wirkt“, also wie die Rezeption in nicht kognitiver Hinsicht ausfällt. Und um diese Qualität in die Architektur einzutragen muß man natürlich selbst zuerst versuchen, die rationalen Ansätze in ein Gleichgewicht zu den irrationalen Qualitäten zu bringen. Bis vor kurzem haben Künstler und Architekten immer noch mit universalen Lösungen versucht, solche Formprobleme zu kanonisieren (und man versucht es immer noch), aber diese Versuche, die letztlich auch nur mit einem rationalistischen Ansatz, also einer Methodik, das Problem beherrschen wollen, sind definitiv vorbei, wenn nicht gar gescheitert. Die anachronistischen Bauten der großen Modernen, vor allem in ihren Spätwerken, belegen dies eindrucksvoll. Unsere Arbeitsprozesse sind demzufolge sehr offen und vor allem zeitlich meist nicht vorhersehbar. Die Geschwindigkeit des heutigen Planungs- und Baugeschehens ist ohnehin ein Kardinalproblem. Alles geht viel zu schnell. Bevor man ein Problem begonnen hat zu durchdenken, soll meist schon alles fertig sein. Zudem können wir nie im Sinne eines festgelegten Stiles voraussagen, wie ein Haus letztendlich wird. Das ist immer von der Situation abhängig und kann dementsprechend total unterschiedlich ausfallen. Da zählt für uns nur der Eindruck, der uns selbst von der endgültigen Situation vorschwebt. Denn wie das auf andere wirkt, können wir ohnehin nicht voraussagen. Das ist natürlich völlig von der Situation und den Besonderheiten des Rezipienten abhängig. In diesem Sinne ist unseren Projekten der Sinn bzw. der Wert nicht immanent, vielmehr wechselt dieser mit der Zeit und dem Betrachter, ähnlich einem Buch, daß von unterschiedlichen Leuten oder in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich aufgenommen wird oder das bei einem selber beim zweiten Mal lesen auch ganz andere Assoziationen und Eindrücke hervorruft als beim ersten Mal. So gesehen setzen wir eher „Merksteine“, die sich vor ihrem jeweiligen Hintergrund so abbilden, daß sie sich in ein bestimmtes Verhältnis zum Umfeld stellen und dieses dadurch quasi aktiv mit einbeziehen, also deren Bedeutungsgehalt ebenfalls relativieren. Und diese Setzung ist stets darauf ausgerichtet diese Qualität in einer nicht kognitiven, eindringlichen Wirkung zu erzeugen, die einem „berührt“. Wie und wo sie einem berührt, ist dann eher zweitrangig. Das betrifft wie gesagt alle Ausdrucksformen des gleichen Projektes.
Wir sind also durchaus im universalen Sinne davon überzeugt, daß es sich bei der Beziehung der naiven Realität zur Wirklichkeit (also bei der Beziehung des Menschen zur Natur als Kosmos) um eine Dichotomie handelt, deren Rezeptionsgehalt kognitiver (Ratio) und intuitiver (Irratio) Natur ist. Und gerade weil der irrationale Teil dieser Dichotomie bei vielen Leuten so verkümmert ist, halten wir es für wichtig, diesen Teil des Rezeptionsapparates anzusprechen, damit unsere Äußerung „erkannt“ wird. So gesehen verfolgen wir natürlich nicht das Ziel, den antiken oder mittelalterlichen Menschen wiederzuerwecken. Andererseits kann man aber fundamentale Gegebenheiten der menschlichen Natur und seines Erkenntnisumfeldes nicht durch unsere neuzeitlich-aufgeklärte Sichtweise verleugnen. Vielleicht hat ja diese Art der architektonischen Artikulation zur Folge, daß die Menschen im Kontakt mit unseren Häusern ein Stück ihrer verlorenen Rezeptionsfähigkeit zurückgewinnen.
Das hat stark damit zu tun, daß wir uns immer auf einem Gebiet betätigt haben, daß so gut wie nie nach außen dringt, dem Kirchenbau bzw. mit der Erforschung und Untersuchung alter Kirchen und nur von Kirchen. Meistens kleine Dorfkirchen, bisher so ca. 100 an der Zahl. Und in der Beschäftigung mit diesen für uns „Individuen“, die wir immer erst nur mal ansehen und verstehen mußten, um danach zu überlegen, ob und ggf. wie wir Handanlegen durften, entstand so eine Art erzwungener Distanz zu dem einem Architekten innewohnenden Handlungsdrang im Sinne von Handanlegen und Eingreifen wollen. Da mußten wir zuerst mal lernen zu denken und zu lesen im Gebäude, im Umfeld, in der Situation, in den Menschen, in der Region etc. und dann zu verstehen, was in welcher Epoche da passiert ist, wie der Zeitgeist war, die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen usw. und warum das Gebäude heute eigentlich so aussieht und was es vor allem noch alles an Immateriellem transportiert, für sich und für die Menschen. Das schärft den Blick für das Jetzt ungemein. Und es zwingt zur Beschäftigung mit allen Disziplinen des Menschseins und es fördert eine Art Respekt im Umgang mit der Situation.
Peter Sichau 2012