Erscheinung der Ferne
Am Wendepunkt einer neuen Achsenzeit, in der eine globalisierte Medien-, bzw. Informations- oder besser Kommunikationsgesellschaft ihr Sein und Denken generalisiert und damit alle kulturellen Unterschiede zu vielfältiger Unkenntlichkeit nivelliert, haben die überkommenen Kunstbegriffe der vordigitalen Zeitalter keine Bedeutung mehr. Wir stehen vor den Artefakten der Vergangenheit, ratlos, nicht im Verstehen oder unserem atomisierenden Analysieren ihrer Bestandteile, aber im „Weitergeben“ ihrer Bedeutung. So sind wir im Sog ständiger Beschleunigung aus dem Bezugsraum des Realen herausgeflogen in einen „Hyperraum der Simulation“. Und dieser virtualisiert und isoliert gleich-zeitig die Existenz jedes Einzelnen, in allen Lebensbereichen.
Buchstabe tötet Stein – Bild tötet Buchstabe – Geschwindigkeit tötet Bild. Damit hat Architektur als kulturelle Selbstvergewisserung des Menschen im Dinglichen ebenso keine Chance mehr, wie Religion im Spirituellen. Das was hinter uns liegt wird gleichberechtigt in seinen Erscheinungen. Das Ende aller Ideen, die im pandemischen Konsens der Bilder verdampfen. Die Befreiung unserer Phantasie aus der Geiselhaft eines geschwätzigen Realismus – wie entspannend. Architektur, gleich welcher Epoche, kann so nicht mehr die „Gegenwart der Idee im Baukörper“ repräsentieren. Sie existiert ab jetzt im Werk nur mehr als Wirkung, die, individuell rezipiert, erst zum Zeitpunkt der Wahrnehmung existent wird und daher vorher nicht festgelegt werden kann. Ein Medium, das davon lebt den Raum zu induzieren, nicht ihn zu besetzen.
Unterhalb einer Hülle können unsere ontologischen Bedürfnisse nach Heimat, Maßstab, Individualität und sozialer Bindung nur mehr subkutan befriedigt werden. Darüber liegt eine Wellness-Schicht aus dekorativen Versatzstücken, deren Wertigkeit sich nur noch durch ihre mediale Katalyse bemisst. Sofern der Gehalt dabei nicht den schalen Geschmack von „Tod und Moder“ tragen soll, können nur mehr homöopathische Dosen eines anthropologischen Elixiers aus den Wirkprinzipien prämedialer Kulturepochen seelische Befriedigung verschaffen. Dies sind die neuen Aufgaben einer „Denkmalpflege“, die nichts mehr zu pflegen hat und sich erst einmal abschaffen muss, um so, von apodiktischen Scheuklappen befreit, zum Kern der Botschaft kultureller Artikulation zurück zu finden. Vielleicht als letzter Zeuge des Prinzips, dass nur die Perzeption aus existentieller Notwendigkeit ein Weiter des Menschen im Sein ermöglicht.
Architektur, die Stadt, das Haus, kann dabei nur durch immaterielle Kräfte Authentizität erlangen. In einer Welt, in der es vorstellbar wird, dass alle jemals möglichen Architekturen gebaut sein können, bleibt als kulturelle Konstante nur das Gesetz des Wissens um eine Ordnung und Präsenz der Dinge, deren Gehalt auf etwas verweist, das noch nicht ist.
Hier versöhnt sich die Gegenwart endlich mit der nicht mehr relevanten Erscheinung von Geschichte und ihren architektonischen Illustrationen, die im Kontext heutiger Maßstäbe zur Zeit-, Wert- und Bedeutungslosigkeit verschmelzen.
Ein Befreiungsangebot vom Architekturbegriff der Neuzeit.
Peter Sichau 2021