St. Hedwigskathedrale Berlin
Gedanken zur Annexrotunde
DEUS SEMPER MAJOR
Kunst und Religion sind zwei Seiten der gleichen Medaille. In seinem ontologischen Bedürfnis nach Vergewisserung seiner Selbst in der Welt kann der Mensch in der ihn beschränkenden Wahrnehmbarkeit seiner Dingwelt keine befriedigende Antwort auf die existentielle Frage nach dem Sinn des Jetzt und damit des Woher und Wohin erhalten. Jenseits der Welt seiner Anschauung liegen die Antworten, die nur im Wissen um das Nichtwissbare als Glauben über diese Wahrheit den Zugang zur Erkenntnis des Menschseins ermöglichen. Nur was Jetzt ist kann erfahren werden – was noch nicht ist und was nicht mehr ist sind fließende Vorgänge, die zwar unsere Wahrnehmung des Jetzt in der Erfahrung des Gewesenen und Erwartung des Kommenden beeinflussen, mithin im Jetzt präsent sind, gleichwohl sind sie doch nur Faktoren der Dimension des Momentes, in dem sich die Bewegung eines horizontalen Zeitlaufs im Vertikalen der Ewigkeit vereint. Mag man diesen Moment als kairos, nunc stans oder ἄrti bezeichnen, so treffen diese unzulänglichen Begriffe doch alle nicht das Phänomen der Ewigkeitserfahrung, das sich offenbart, wenn in der priesterlichen oder, bzw. weil künstlerischen Handlung, an einem solchen Punkt das Schöpferische im Wort, der Handlung oder einer materiellen Setzung den Menschen des Jetzt erreicht. Der Wirkmacht dieses Zusammentreffens von bewusster Handlung mit einem wahren Inhalt in einer zeitgenössischen Form kann sich der Mensch nicht entziehen, da diese Erscheinung in einer nicht physischen, mithin metaphysischen Form auftritt, die sich einer rational-intellektuellen Relativierung verweigert, da sie jeden Menschen in seiner Seinsfrage berührt. Insofern „erkennen“ die Menschen in kollektiv bewegenden Momenten einer Gemeinschaft dieses Prinzip und reagieren in einer empathischen, nicht-kognitiven, aber immer solidarisierenden Form darauf.
Dieses Bedürfnis muss Kirche aufgreifen und sinngebend übersetzen. Erzbischof Koch schreibt in diesem Sinne hierzu am 20.12.201: „Communio darf nicht nur die Communio der Kirche sein, sondern muss auch diese gesellschaftliche Communio umfassen und greifbar und sichtbar zum Ausdruck bringen, so dass diese Kirche auch für Menschen, die gedenken wollen und vielleicht nicht Christen sind, hier einen inspirierenden und raumlassenden Ort finden.„ Insofern kann in der Annexrotunde ein „gesellschaftlicher Gedächtnisort“ entstehen, der zum ersten Mal in der abendländischen Kirchenbaugeschichte im direkten Kontext des großen Feierraumes bewusst ein Angebot macht an alle Menschen, die „auf der Suche nach Wahrheit“, für solche die zweifeln ebenso, wie für diejenigen, die sich in ihrem Glauben an Gott verbunden fühlen. DEUS SEMPER MAJOR – Eine Gotteserfahrung, die an diesem “raumlassenden“ Ort, gerade in seinem katholischen Kontext, für alle Besucher der Hedwigskathedrale als house for all möglich wird. Allein das Nachdenken über ein solches Angebot ist ein paradigmatischer Quantensprung in der Wesensbestimmung und Sinnerweiterung einer Kathedrale!
Damit diese Idee glaubhafte Wirklichkeit werden kann, muss die Beschäftigung mit der Frage des Jetzt, seiner theologischen und philosophischen Bedeutung und seiner Thematisierung, als inhaltlicher Diskurs am Anfang und im Zentrum jeglicher Programmatik für diesen Raum stehen. Da die Bespielung mit aktuellen „gesellschaftlichen“ Themen im Vorhinein nicht bestimmt werden kann (da man diese ja jetzt noch nicht kennt), bleibt physisch nur den Raum für jegliche Intervention in einem neutralen Duktus vorzubereiten. Dabei bleibt die überkommene Raumform ohne Eingriffe oder Interpretation als schlichtes weißes Rund mit matter Wand- und Glasoberfläche, neutraler Hintergrund für ein möglichst breites Spektrum zukünftiger, temporärer Eintragungen. Die dann jeweils Handelnden sollten dabei durch ein kleines Gremium, dass aus unterschiedlichsten Disziplinen der Theologie, Kunst, Philosophie etc. besetzt sein sollte, ausgewählt werden. Dazu wäre zuerst ein Leitbild zu formulieren, das, jegliche persönliche Eitelkeiten ausschließend, den Geist der Idee dieses Raumes als missing link von Kirche zum Menschen der Jetztzeit, auf einem maximalen Qualitätsniveau, definieren muss. Ohne diese Voraussetzungen können zum jetzigen Zeitpunkt zwar Überlegungen als brainstorming möglicher Szenarien angestellt werden, jedoch besteht die eigentliche Aufgabe der aktuell Verantwortlichen vor allem darin, sich dem „zukünftigen Jetzt“ zu überlassen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen, dass das was kommen und die Menschen beschäftigen wird, in diesem Raum dann Wirkung entfalten kann. Dass dafür, wie der Erzbischof schreibt
„noch sehr viel Zeit“ benötigt wird, ist gut so, denn das Thema ist neu und wichtig und eine einmalige Chance, die man nicht durch zu wenig Vor-Denken und Dialog gefährden darf.
Peter Sichau – 2022